Kleine Europadidaktik
– Ich würde zunächst dem unausgesprochenen Anliegen widersprechen wollen, dass es wünschenswert sei, die Leute für Europa zu begeistern.
(...)Was wären denn vernünftige Argumente für Europa?
– Vor allem die Abwesenheit von Krieg und die Freiheit von Kriegsangst …
(aus: Über falsche Begeisterung und richtige Argumente für Europa. ZEIT Magazin Leben vom 17.7.2008, Ausgabe 30, S. 46. Das Gespräch führte Giovanni di Lorenzo.
Alle Kolummnen des Altbundeskanzlers sind enthalten in dem Band
Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2009)
Hamburg wirbt mit dem Slogan "Tor zur Welt". Europa-Bildung ist ein Teilgebiet der Interkulturellen Bildung sowie der interkulturell orientierten Fachdidaktiken. Europa-Bildung ist angesiedelt auf einer vermittelnden Ebene zwischen Region/Heimat, Nationalstaat und globaler Welt. Europa-Bildung ist eine Art "Zwischen-Stockwerk" (Mezzannin) zwischen Community/Partizipation vor Ort und kosmopolitischem WeltbürgerIn.
Europa-Bildung muss als Kulturpädagogik konzipiert werden: Jede Kultur hat eine Tendenz zur Abschließung und Ausschliessung; jede Hochkultur öffnet durch innere Reflexion aber auch für Universalismus und Kosmopolitismus. Europa-Bildung ermöglicht Schülerinnen und Schülern, diese Spannung von Inklusion und Exklusion im weltgeschichtlichen Mikrokosmos Europa zu erleben und zu reflektieren.
„L’ Europe – ma grande patrie“ (Albert Camus). In der unheilvollen Geschichte Europas dominiert immer wieder das Element der Exklusion, der Dominanz und der Aggression nach außen: die koloniale Vergangenheit, die „Festung Europa“, von der Goebbels sprach; in den 1950er-Jahren galt es das „Christliche Abendland“ gegen den atheistischen Geist des kommunistischen Ostblocks zu verteidigen; nach 1989 sind Bollwerke gegen die "Flut" von Asylbewerbern und Armutsflüchtlingen zu errichten. Es gab eine Diskussion um den Begriff der „Leitkultur“ usw.
In der Geschichte Europas gibt es aber auch den Gedanken der Universalität. Er ist an Freiheit und Gleichheit aller Menschen gebunden. Universalität steht in einem reflexiven Spannungsverhältnis zu Partikularität, der unbedingten Achtung vor Lebensformen und Kulturen in ihrer Pluralität. Jede Hochkultur trägt die Elemente ihrer reflexiven Transzendierung, den Zweifel und die Skepsis, in sich.
Es hat also gute Gründe, wenn Pädagogen gegenüber der Idee der Europa-Bildung skeptisch sind, weil sie ihren exklusiv-abgrenzenden Gehalt sehen. Eine innovative didaktische Leitidee kann das gegenwärtig intensiv diskutierte Leitmodell eines kosmopolitischen Europa sein: „In der Welt des 21. Jahrhunderts gibt es keinen geschlossenen Raum des christlichen Abendlandes mehr … Der Begriff des kosmopolitischen Europa ermöglicht eine nicht nostalgische, nicht nationale, sozusagen radikal europäische Kritik der EU-Wirklichkeit. Die Kritik lautet: Vieles am Zustand der EU ist uneuropäisch.“ (Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt a. M. 2004, 249 f.)
Der erste Grundsatz dieses kosmopolitischen Realismus besagt: „Europa wird niemals als Produkt nationaler Homogenität möglich … Nur ein kosmopolitisches Europa, das (wie seine Gründungsväter wollten) seine nationale Tradition zugleich überwindet und anerkennt – überwindet, indem es sie anerkennt (...) –, ist sowohl europäisch (im Sinne von nicht national) als auch national, weil plural-national, also europäisch.“
(Ulrich Beck und Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa: Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt a. M. 2004)
In diesem Sinne erfüllt Europa-Bildung das Überwältigungsverbot und das Kontroversgebot des Beutelsbacher Konsenses (www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html). Es ist nicht Missionierung oder gar Propaganda für die EU, sondern ein vielstimmiges, mehrperspektivisches „Doing European“ und „Inventing Europe“. Auch die Europa-Skepsis muss zu Wort kommen!