Gen mS
Die Genese mathematischer Sprachlichkeit
Projektleiter
Dr. Marcus Schütte
Einrichtung
Goethe Universität Frankfurt am Main
Laufzeit
24 Monate, 01.07.2011 – 31.01.2013
Fördervolumen
12.200 € Fokuslinie Goethe-Universität Frankfurt
Wissenschaftliche Fragestellung und Stand der Forschung
Vor dem Hintergrund der anhaltenden gesellschaftlichen Diskussion über Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem wird in dem geplanten Pro- jekt die Beziehung zwischen Sprache und dem Lernen im Fachunterricht in den Blick genom- men. In diesem Zusammenhang erlangt das Fach Mathematik große Bedeutung, da es neben dem Fach Deutsch die größte selektive Funktion beim Übergang zu den weiterführenden Schulformen hat. Nach den Ergebnissen von internationalen Vergleichsstudien wie PISA 2003 sowie IGLU besteht ein Zusammenhang zwischen der Qualität der „Umgangssprache im El- ternhaus“ und den sprachlichen und mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen. Ju- gendliche, deren Umgangsprache im Elternhaus nicht der Unterrichtssprache entspricht, erzie- len in den PISA-Tests in allen Domänen geringere Kompetenzwerte. Hierdurch scheinen nicht nur Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund benachteiligt, sondern auch solche, die aus wenig bildungsbeflissenen Elternhäusern mit einem meist geringen sozioökonomi- schen Status kommen (vgl. hierzu auch Bernstein 1996). Durch einen quasi-longitudinalen Vergleich der PISA-Studie 2003 und von IGLU (Bos et al. 2003) lässt sich Folgendes konsta- tieren: Ein entscheidender Ansatz, um nicht nur die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und denen mit niedrigerem soziökonomischen Status in deutschen Schulen zu verbessern, sondern von allen Lernenden, scheint es zu sein, ihren Zugang zur Sprache und den Regeln der Interaktion im Unterricht zu verbessern (s. a. Heinze und Rudolph 2008). Das geplante Forschungsvorhaben zielt somit auf die Analyse der Ent- wicklung von Sprachlichkeit im Mathematikunterricht. Es geht folgender Fragestellung nach:
1. Welche fachbezogenen sprachlichen Kompetenzen entwickeln sich bei Kindern vor und während der Grundschulzeit?
2. Wie entwickelt sich eine fachbezogene sprachliche Kompetenz bei Kindern vor und während der Grundschulzeit?
Durch die Forschungsergebnisse der Linguistik ist relativ viel über den Erstspracherwerb von Kindern (z.B. Tracy 2007, Rothweiler 1990) bekannt und es lässt sich hier eine Entwicklung
von der Erforschung des Spracherwerbs bei Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstö- rungen (z.B. Rothweiler 2001 oder Schulz 2007) hin zu der vermehrten Untersuchung des Zweitspracherwerbs bei Kindern erkennen (siehe z.B. Schulz/Tracy/Wenzel 2008). In diesem Zusammenhang gibt es im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung den Ansatz der „Bildungssprache“ von Gogolin (2006, S. 82). Nach Gogolin wird im deutschen Schulsystem an alle Schülerinnen und Schüler der normative Anspruch herangetragen, die im Unterricht gepflegten Sprachvarianten produktiv und rezeptiv zu beherrschen, um bildungser- folgreich zu sein.
In der mathematikdidaktischen Forschung sind lediglich isoliert Ansätze zu finden, die sich mit dem sprachlichen Lernen und Lehren im Mathematikunterricht befassen. Im deutschsprachi- gen Raum hat sich vor allem Maier (2004) mit Untersuchungen in diesem Bereich befasst. Ein wesentlicher Fokus der Arbeiten von Maier stellt der sinnvolle Einsatz von Fachsprache im Mathematikunterricht dar. Bauersfeld (1995) hingegen umschreibt die Interaktion im Mathema- tikunterricht als ein Sprachspiel in Anlehnung an Wittgenstein. Beim Verstehen von mathema- tischen Begriffen oder Verfahren handelt es sich hiernach nicht nur um ein Lernen von Voka- beln oder Algorithmen, sondern vielmehr um die schrittweise Integration neuer mathematischer Begriffe in ein komplexes Netzwerk von Begriffen, Handlungsroutinen, Konventionen des Sprechens etc. Demzufolge lässt sich das Lernen von Mathematik nach Bauersfeld nur ange- messen analysieren und verstehen, wenn die Aspekte der interaktionalen Praxis des Mathe- matikunterrichts berücksichtigt werden. Pimm (1987) greift auf den Registerbegriff von Halliday (1975) zurück und versteht Mathematik als eine soziale Aktivität, die eng verknüpft ist mit ver- baler Kommunikation. Er beschreibt die Lehrperson als einen ‚native speaker’ der Mathematik. Pimm sieht die Aufgabe von Schülerinnen und Schülern darin, ein mathematisches Register sprachlich zu erwerben und so in und mit diesem verbal handeln zu können wie ein ‚native speaker’ der Mathematik. Zevenbergen (2001) konstatiert hingegen bei ihren Studien zur Mög- lichkeit des Mathematiklernens von „working-class children“ und „middle-class children“ (eben- da, S. 40 f.) ”that the mathematics curriculum is acting as a social filter“ (ebenda S. 40), da sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler andere Formen von Sprache beherrschen als die, die im Mathematik- oder Schulkontext gefordert werden. Diese sehr unterschiedlichen Ansätze ergeben kein einheitliches Bild, wie sich eine mathematische Sprachlichkeit entwi- ckelt, und scheinen teilweise, wie zum Beispiel die Ansätze von Maier oder Bauersfeld, wenig empirisch begründet.
Betrachtet man beide Forschungslinien so nehmen Ansätze aus der Linguistik die Besonder- heiten des Faches kaum in den Fokus. Dies mag nicht weiter verwundern, da Untersuchungen zum Erst- und Zweitspracherwerb vielfach auf die jeweiligen Zeiträume der kindlichen Entwick- lung vor dem Schuleintritt fokussieren. Doch neben dem Spracherwerb, verstanden als dem eher impliziten Lernen in der alltäglichen Welt außerhalb der Schule, findet auch ein Sprach- lernen innerhalb der Schule statt und erlangt gerade für Erstsprachenlernende aus einem we- nig bildungsbeflissenen Elternhaus und Zweitsprachenlernende, die im häuslichen Umfeld wenig Anreize in der Zweitsprache erhalten, eine große Bedeutung. In diesen sprachlichen Lernprozessen im Fachunterricht der Schule ist es jedoch unabdingbar, das fachliche und sprachliche Lernen als wechselseitigen Prozess zu betrachten. Die mathematikdidaktische Forschung scheint hingegen, die Umstände, in denen Kindern leben und lernen, sowie den daraus resultierenden Zugang zur Sprache weitgehend unbeleuchtet zu lassen. In der Mathe- matikdidaktik fokussieren die Bemühungen, den Unterricht sprachlich zu verbessern, vorwie- gend auf der Ebene Aufgabenformate zu entwickeln oder Lernsituationen zu schaffen, in de- nen eine Fachsprache geübt werden kann. Diese Bemühungen gehen hauptsächlich auf die oben erwähnten Ansätze von Maier (2004) zurück, nehmen vordergründig das Vokabellernen von Fachtermini in den Blick und lassen z.B. Untersuchungen zur Bildungssprache oder zum Zweitspracherwerb gänzlich außer Acht. Im Zusammenhang mit der Frage, wie der Grund- schulmathematikunterricht alle Schülerinnen und Schüler in formale Aspekte einer Bildungs- sprache der Schule einführt, stellt sich für den Antragsteller vor allem die Frage, wie Lernende Fähigkeiten erlangen, um Sprache zielgerichtet in der Unterrichtsinteraktion einzusetzen, um so durch aktive Teilnahme Mathematik zu lernen. Schülerinnen und Schüler müssen demnach nicht nur die Sprache des Unterrichts beherrschen lernen, sondern diese auch in angemesse- ner Weise in die soziale Interaktion des Unterrichts einbringen können. Sie benötigen somit interaktive bzw. kommunikative Kompetenzen (vgl. Pimm 1987). Insofern lässt sich eine For- schungslücke identifizieren, die vor der Entwicklung von Aufgabenformaten oder Lernsituatio- nen ergründet wie die Entwicklung einer mathematischen Sprachlichkeit verläuft, um dann im Anschluss zielgerichtet Lösungen zu entwerfen diese Entwicklung zu unterstützen.