Deutsch-türkische Bildungsgeschichte - Anstoß und Fragen
Vor ein paar Jahren erregte der Publizist Doug Saunders Aufsehen mit der These, dass sich im westeuropäischen Vergleich besonders das deutsche Bildungswesen damit schwertut, Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund und muslimischem Glauben in die Gesellschaft zu integrieren. Dies war der Anstoß, uns ein bisher weithin unbekanntes Kapitel der deutsch-türkischen Bildungsgeschichte und darin enthaltener Vorstellungen über das Osmanische Reich und die Türkei anzuschauen. Im Forschungsprojekt „Das Wissen über Türken und die Türkei in der Pädagogik – Analyse des diskursiven Wandels 1839–1945“ stellen wir uns folgende Fragen:
- Wie wandelte sich das für „wahr“ gehaltene Wissen über Türken und die Türkei in der deutschen Gesellschaft, speziell in Pädagogik und Lehrerschaft?
- Welche Quellen und Forschungsansätze stehen für die Analyse des (Alltags-)Wissens über Türken und die Türkei in früheren Epochen zu Gebote?
- Und inwiefern wirkt dieses „Wissen“ bis heute im kollektiven Unbewussten fort, sodass es nicht zuletzt im Bildungswesen die sattsam bekannten Diskriminierungs-Mechanismen aktiviert?
In der Fachentwicklung der Pädagogik setzte so etwas wie eine gemeinsame Geschichte erst mit den unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Gastarbeiter-Anwerbeabkommen ein, mit einer „Ausländerpädagogik“, die vollkommen geschichtsblind war. Während sich angrenzende Wissenschaften etwa wegen der Frage der Zugehörigkeit der Türkei zu Europa mit der gemeinsamen deutsch-türkischen Geschichte befassen, ist hierzu in der Historischen Bildungsforschung bisher wenig unternommen worden. Meist reicht das kollektive Gedächtnis nur bis zum Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkischen Republik von 1957 zurück. Das wollen wir ändern.
Bildung und "Kulturmission"
Ein kurzer Überblick über die Geschichte macht unseren Forschungsrahmen deutlich: Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein findet sich einerseits noch das überkommene, religiös gefärbte Bild von den Türken als „Schrecken des Abendlandes“. Andererseits kamen unter aufklärerischen Vorzeichen allmählich mehr weltliche Kenntnisse über die Türkei auf. Seither formte sich auch in Deutschland ein „koloniales Begehren“, das sich auf die Naturressourcen des Landes, aber auch auf die archäologischen Überreste aus der Antike richtete. Nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde aus einem bis dahin nur diffus belegbaren Wirtschafts- und Handelsinteresse am Osmanischen Reich ein semi-kolonial ausgerichtetes Projekt: Das Osmanische Reich sollte für einen deutsch-türkischen Wirtschaftsraum erschlossen werden, in dem neben Handel auch die Ausbeutung von Bodenschätzen Platz hatte. Pädagogik und Lehrerschaft sollten dieses Projekt durch eine „Kulturmission“ unterstützen, also „deutschen Geist“, deutsche Sprache und Kultur in die Türkei tragen und dort die Modernisierung des Bildungswesens voranbringen.
Bildungsgeschichte rekonstruieren
Anhand von Schulbüchern, pädagogischen Zeitschriften und Lehrerzeitungen, Berichten in der Massenpresse und Beiträgen aus Fächern wie Geographie und Orientalistik untersuchen wir, wie sich der Diskurs über Türken und die Türkei im Laufe der Jahrzehnte wandelte. Besonders interessiert uns, wie sich Pädagogik und Lehrerschaft an den semi-kolonialen Ambitionen und imperialistischen Weltmachtplänen des Deutschen Reichs beteiligten und dafür sorgten, dass diese Pläne in der deutschen Gesellschaft akzeptiert und begrüßt wurden. Unsere Quellen zeigen, dass sich auch Teile der Lehrerschaft im Gefühl kultureller Überlegenheit berufen sah, das türkische Schul- und Hochschulwesen zu reformieren. Wir rekonstruieren aus den Quellen die Geschichte dieser Beziehungen und die damals prägenden Vorstellungen über die Türkei. Und wir versuchen herauszufinden, wie es dazu kam, dass dieser Teil der Geschichte heute nicht mehr bekannt ist oder nicht mitbedacht wird.