Oktober: Wie können alle Kinder mitentscheiden?Forschungsprojekt aus der Sozialpädagogik zu Demokratie und Inklusion in der Kita
29. Oktober 2020, von Bente Gießelmann
Foto: privat
Kinder haben das Recht und die Fähigkeit, in demokratischen Aushandlungen über ihren Alltag mitzuentscheiden. Das Projekt „Partizipation und Inklusion in demokratieorientierten Kitas (PInK)“ untersucht, ob und inwieweit alle Kinder in die demokratische Mitbestimmung in der Kita einbezogen sind und welche Rolle pädagogische Fachkräfte dabei spielen. Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker und Laura-Aliki Vesper M.A. beantworten gemeinsam einige Fragen zum Projekt.
„Demokratie“ verbinden viele mit „wählen“, und das geht erst ab 16 bzw. 18 Jahren. Was hat Demokratie mit Kindern in der Kita zu tun?
Das Grundgesetz und die Menschenrechte gelten auch für Kinder. Auch sie haben das Recht auf Mitentscheidung, besonders zu den Fragen, die ihr Leben in den pädagogischen Einrichtungen und in der Gesellschaft betreffen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz fordert deshalb von Kitas Beteiligungskonzepte. Seit etwa zwanzig Jahren werden Konzepte der Mitbestimmung und Mitverantwortung der Kinder in der Kita entwickelt. Der Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft ist daran intensiv beteiligt - durch Konzeptentwicklung, Forschung und Transfer.
Die bisherige Forschung zeigt, dass Kinder in der Kita engagiert und kompetent die Fragen der gemeinsamen Lebensführung in der Einrichtung mitdiskutieren, mitentscheiden und mit umsetzen können. Voraussetzung dafür ist, dass ihre Rechte der Selbstbestimmung und Mitbestimmung in einer Kita klar festgeschrieben und im Alltag nutzbar sind. Hunderte von Kitas in Deutschland orientieren sich an diesen Ansätzen demokratischer Partizipation in der Kita.
Wie ist das Projekt PInK entstanden?
Öfter wurden in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion Bedenken erhoben, ob die demokratieorientierten Kitas und Fachkräfte dafür sorgen, dass alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit gleich-berechtigt an Verfahren der Mitentscheidung teilnehmen können oder ob nicht doch einzelne Kinder außen vor bleiben. Es stellt sich also die Frage von Inklusion: Können den differenten Mitgliedern der Entscheidungsgemeinschaft einer Kita jeweils für sie spezifisch nutzbare Teilnahmemöglichkeiten eröffnet werden? Wir wollten herausfinden, wie dies in der Praxis, also in der Kita, gelingt.
Die Beteiligung aller Kinder ist also nicht automatisch gegeben, sondern vielmehr mit Herausforderungen verbunden. Warum ist „Inklusion“ Ihre zentrale Perspektive im Projekt?
Demokratie hat ein Inklusionsideal: Alle sollen trotz ihrer Differenz gleiche Rechte und Möglichkeiten haben, sich gleichmächtig und gleichrangig an öffentlichen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen können.
Daraus haben wir zwei Forschungsfragen gefolgert:
- Inwieweit und wie gelingt es in demokratieorientierten Kitas, allen (unterschiedlichen) Kindern einen Zugang zu demokratischen Strukturen des Mitentscheidens und Mithandelns zu eröffnen?
- Inwieweit und wie gelingt es demokratieorientierten Kitas im Prozess demokratischer Diskurse und Entscheidungsfindungen, allen Kindern trotz ihrer Unterschiedlichkeit gleichmächtige und eigensinnige Beteiligung an den Prozessen zu eröffnen?
Wie erforschen Sie demokratische Prozesse in Kitas?
In dem Forschungsprojekt haben wir eine intensive Fallstudie in einer demokratieerfahrenen Kita in Schleswig-Holstein durchgeführt. Über vier Wochen lang haben wir am Alltag in der Kita teilgenommen und beobachtet – eine ethnographische teilnehmende Beobachtung. Zuvor haben wir Fachkräfte, Kinder und Eltern über unser Vorhaben informiert und sie um Erlaubnis gebeten, das Projekt in der Kita durchzuführen. Das haben die drei beteiligten Gruppierungen uns dann zugestanden.
Die teilnehmende Beobachtung bezog sich auf den gesamten Kita-Alltag und die darin integrierten demokratischen Verfahren und Gremien, wie zum Beispiel die "Gruppenkonferenzen" der einzelnen Gruppen und den übergreifenden "Kindergartenrat", in den die Gruppen Delegierte entsenden.
Aus den Dokumenten der ethnographischen Beobachtung haben wir Ergebnishypothesen zu den Forschungsfragen erstellt. Diese Hypothesen haben wir dem Team der Fachkräfte der Kita offen gelegt und in einer Gruppendiskussion geprüft und verändert und so ein gemeinsames Ergebnis erzeugt – eine „kommunikative Validierung“.
Wie können in der Kita demokratische Strukturen des Mitentscheidens unter Bedingungen von Vielfalt und Differenz umgesetzt werden – was sind Ihre Ergebnisse?
Um den Kindern unser Projekt vorzustellen, hatten wir kleine illustrierte Geschichten entwickelt, in denen es um Probleme der Inklusion in die Mitentscheidung ging. Unsere Hypothesen wurden in den Bildergeschichten sichtbar.
Unsere Ergebnisse sehen jedoch anders aus: Zunächst einmal konnten wir positiv feststellen, dass die Fachkräfte allen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit jeweils spezifische Zugänge zur Teilnahme an den demokratischen Verfahren eröffnen. In einigen Momenten, zum Beispiel in Diskussionen im Kinderrat, wurden jedoch die Chancen von Kindern behindert, sich in Debatten und Entscheidungen einzubringen – und zwar gerade aufgrund bestimmter pädagogischer Handlungen oder Interventionen.
Drei Beispiele aus dem Kita-Alltag, an denen wir die Auswirkung dieser pädagogischen Interventionen sehen können:
Fachkräfte lehnen sofort Vorschläge der Kinder ab mit dem Hinweis, diese seien nicht realisierbar, statt sie im Dialog auszudeuten und machbare Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen. Oder: Die Fachkräfte behindern die Debatte, indem sie die Situation nutzen, um den Kindern etwas beizubringen, z.B. Zählen. Oder als drittes Beispiel: Die Fachkräfte unterbrechen die offene Diskussion, indem sie den Kindern wiederholt formale Regeln demokratischer Verfahren vermitteln und Verstöße dagegen sanktionieren.
Das heißt, pädagogische Interventionen verhindern manchmal die Teilnahme?
Wir hatten unterstellt, dass Differenzzuschreibungen, etwa von Alter, Beeinträchtigung, Geschlecht oder ökonomischem Status (Armut) die Chancen der Beteiligung negativ beeinflussen würden. Stattdessen fanden wir heraus, dass es kaum diese gesellschaftlichen Differenzkonstruktionen sind, die Inklusion in demokratische Partizipation behindern oder verhindern. Vielmehr scheinen oftmals pädagogisch bedingte Zuschreibungen und Praktiken Ausschlüsse herzustellen. Das geschieht zum Beispiel, wenn Fachkräfte einen Regelbruch durch einzelne Kinder als ein Problem des Individuums deuten und pädagogisch bearbeiten wollen. Sie suchen und entdecken dann nicht auch Ursachen des Regelbruchs in den sozialen Zusammenhängen der kleinen Gesellschaft der Kita. Das betroffene Kind wird zu einem pädagogischen Problem und wird umso weniger gleichzeitig weiterhin auch als berechtigtes und fähiges Mitglied der Entscheidungsgemeinschaft thematisiert.
Wir fanden heraus, dass das Handeln der Fachkräfte von drei gleichzeitig relevanten, aber unterschiedlichen fachlichen Ansprüchen bedingt wird. Die Anforderung, gleichzeitig demokratische Partizipation zu realisieren, die normativen Orientierungen von Inklusion umzusetzen und ganz grundsätzlich die Erziehungs- und Bildungsaufgabe der Kita wahrzunehmen, führt zu Spannungsfeldern.
Welches sind die Spannungsfelder für Fachkräfte in der Kita?
Nehmen wir als Spannungsfeld die Inklusionsorientierung: Wenn ein Kind individuellen Unterstützungsbedarf hat und Fachkräfte daraus auch bestimmte pädagogische Maßnahmen mit dem Ziel der Inklusion ableiten, besteht gleichzeitig ein Risiko, dass diese Kinder grade auch von demokratischer Beteiligung ausgeschlossen werden. Kinder mit Inklusionsbedarfen können so zu Objekten wohlmeinenden pädagogischen Zugriffs werden. Es besteht die Gefahr, dass sie nur noch über ihre Defizite oder Unterstützungsbedarfe definiert werden und nicht immer gleichzeitig auch als gleichberechtigte Mitglieder der Entscheidungsgemeinschaft.
Ein anderes Beispiel: Demokratische Verfahrensweisen (z.B.: es spricht immer nur eine Person; man muss zuhören; man muss wissen, wie Abstimmungen funktionieren) werden von den Fachkräften den Kindern vermittelt; eine Erziehungsaufgabe. Das unterstützt die Inklusionschancen der Kinder, denn sie wissen dann besser, wie sie mitwirken können. Andererseits wird die strukturelle Machtposition der Erzieher*innen immer wieder bestätigt: Sie belehren die Kinder und bestimmen, wie die Verfahren funktionieren.
Insgesamt kann man sagen, dass die Schwierigkeit, Demokratie in der kleinen Gesellschaft der Kita zu realisieren, eher auf Seiten der Fachkräfte besteht, als auf der der Kinder. Unsere Ethnographie, aber auch andere ähnliche Forschungen zeigen, dass die Kinder zu gemeinsamen Aushandlungen und Lösungen kommen können und wollen. Manchmal versuchen sie sogar (sehr freundlich), eine Sachdebatte gegenüber pädagogischen Interventionen der Fachkräfte aufrecht zu erhalten, die diese eher behindern.
Forschung zu Demokratiebildung – muss die Forschung selbst nicht auch demokratisch angelegt sein?
Unsere Forschung richtet sich ja auf das Handeln der Fachkräfte. Um deren Partizipation an der Forschung zu sichern, haben wir unsere Hypothesen mit den Fachkräften intensiv diskutiert und in einem gemeinsamen Bildungsprozess neue und bessere Ergebnisse erzeugt. Unsere Forschungspartner sind also sowohl am Forschungsprozess als auch an der Interpretation wesentlich beteiligt. Sie haben die Ergebnisse mitbestimmt.
Wie können die Forschungserkenntnisse aus PInK den gemeinsamen Alltag in der KiTa, aber auch andere Bildungskontexte, inspirieren?
Die Ergebnisse regen dazu an, den Blick nicht immer nur auf die Herstellung der gesellschaftlichen Unterschiede zu richten, sondern auch selbstkritisch zu erkennen, dass es die pädagogischen Perspektiven sein können, die ganz eigene Unterschiede und Ungleichheiten erzeugen. Dabei geht es zum Beispiel darum, Kinder als problembehaftet zu definieren, als störend oder regelbrechend, als unrealistisch, unwissend und unfähig, als schwach und schutzbedürftig. Solche Zuschreibungen behindern die gleichberechtigte Teilnahme der Kinder an demokratischen Gestaltungsprozessen in der Kita. Andererseits konnten wir auch zeigen, dass die Fachkräfte engagiert sind, mit den einzelnen Kindern deren Bildungsinteressen im Dialog zu entfalten. An dieser Stärke kann man anknüpfen, denn Dialoge sind Basis demokratischer Aushandlungsprozesse. Fachkräfte können ermutigt werden, Dialoge von der individuellen Ebene auf die Ebene der sozialen Community der Einrichtung zu bringen. Damit können sie helfen, das Recht der Kinder auf demokratische Partizipation besser zu realisieren.
Was ist Ihr persönliches Fazit aus dem Projekt?
Die Ausbalancierung der fachlichen Ansprüche an die Gestaltung von Erziehung und Bildung, demokratischer Partizipation und Inklusion in Kitas ist eine enorm komplexe pädagogische Aufgabe. Es ist kaum zu vermeiden, immer wieder Ungleichgewichte zu erzeugen. Die Chancen einer inklusiven demokratischen Partizipation können allerdings vergrößert werden, wenn die Fachkräfte diese Prozesse besser reflektieren können. Wir hoffen, dass unsere Forschung dazu beitragen kann.
Informationen zum Forschungsprojekt
Zum Forschungsteam gehörten Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker (Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg), Prof. Dr. Raingard Knauer (Fachbereich Soziale Arbeit der FH Kiel), Laura-Aliki Vesper (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sozialpädagogik) und Elif Zhour (Forschungspraktikantin). Das Forschungsprojekt "PInK" wird von der Kurt und Käthe Klinger Stiftung und dem Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein gefördert.
Hochschulperle für weiteres Projekt zur Demokratiebildung
Demokratiebildung steht auch in einem anderen Projekt von Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker im Fokus: Gesellschaftliches Engagement von benachteiligten Jugendlichen fördern. Hier werden wissenschaftlich fundierte und praxiserprobte Methoden für die Kinder- und Jugendarbeit entwickelt, um politische Teilhabe zu unterstützen. Das Kooperationsprojekt des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik der Universität und der Bertelsmann Stiftung wurde vom Stifterverband mit der Hochschulperle des Monats Oktober ausgezeichnet.