Welche Rolle spielen die Familiensprachen der Kinder im offenen Ganztag von Grundschulen?
Eine Untersuchung zur sprachlichen Praxis in der offenen Ganztagsschule
Betreuerinnen: Sara Fürstenau, Christina Huf
Das Dissertationsvorhaben untersucht, welche Rolle die Familiensprachen mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler innerhalb der Offenen Ganztagschule einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen spielen.
Im Vergleich zum Unterricht beschäftigen sich die Kinder im Offenen Ganztag am Nachmittag freier: Neben obligatorischen Inhalten wie Mittagessen und Hausaufgaben können sie verschiedene Arbeitsgemeinschaften wählen oder sich im Freispiel beschäftigen. Diese offeneren Möglichkeiten haben auch Einfluss auf die Verwendung von Sprache. Dabei ist wenig darüber bekannt, wie die Sprachpraxis in Ganztagsangeboten konkret beschaffen ist. Das liegt auch daran, dass es teilweise große Unterschiede hinsichtlich der Angebote und der Ausgestaltung gibt.
Die Dissertation geht der Frage nach, wie sich im Angebot des Offenen Ganztags an einer Untersuchungsschule die sprachliche Praxis hinsichtlich der Familiensprachen der Kinder gestaltet. Die folgenden Forschungsfragen waren für die Untersuchung leitend:
- Wie und von wem werden Familiensprachen im offenen Ganztag verwendet, relevant gemacht, eingefordert oder restriktiv behandelt?
- Was kennzeichnet diese Situationen, in denen Familiensprachen eine Rolle spielen, und wie werden darin Positionierungen mittels Sprache vollzogen?
Sprache und damit auch Mehrsprachigkeit wird als soziale Praxis aufgefasst, die lokal situiert ist (vgl. u.a. Heller 2008; Pennycook 2010). Sie wird nicht als gegeben gesehen, sondern als sozial konstruiert. Somit ist sie Gegenstand von Aushandlungen, wandelbar und „work in progress“, (Pennycook 2010: 129). Dabei ist sie Resultat lokaler sozialer Interaktionen (vgl. ebd.). Die Relevanz der Lokalität sprachlicher Praktiken wurde bei den Analysen besonders berücksichtigt, da sie sie trotz (politischer) Sprachregeln oder gesellschaftlicher sprachlicher Hierarchien stets örtlich ausgehandelt werden.
Es wurden im Offenen Ganztag einer Grundschule Daten erhoben. Der Kontakt zur Untersuchungsschule entstand durch das Forschungsprojekt MIKS – Mehrsprachigkeit als Handlungsfeld interkultureller Schulentwicklung (2013-2016). In einer mehrmonatigen Feldphase wurden teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Einer ethnografischen Forschungsstrategie folgend wurden nach jedem Feldaufenthalt Protokolle der Beobachtungen angefertigt (vgl. Breidenstein et al. 2015). Ergänzt wurden diese Daten durch Interviews. Beobachtungsprotokolle und Leitfadeninterviews wurden unter Rückgriff auf die Grounded Theory analysiert (vgl. Charmaz 2014).
Im Ergebnis zeigen sich widersprüchliche Praktiken: Mehrsprachige Praktiken werden vielfältig ausgestaltet, gleichzeitig wird in verschiedenen Situationen ein Deutschgebot eingefordert. Je nach involvierten Personen, Kontexten und Settings variiert die Ausgestaltung der Praktiken. Die Präsenz neuzugewanderter Schüler*innen mit wenig Deutschkenntnissen in der OGS führt dabei auch zu einer Öffnung gegenüber Familiensprachen.
Die Dissertation kann durch die intensive Beobachtung einer OGS einen differenzierten Beitrag zum Feld der Studien zu mehrsprachigen Praktiken im Bildungssystem leisten und dabei helfen, das bislang wenig untersuchte Feld des Offenen Ganztags zu erschließen. Die Einnahme einer räumlichen Perspektive zeigt dabei, wie divers sich die sprachlichen Praktiken ausgestalten und dass sich keine einfachen ‚Regeln‘ dafür formulieren lassen.
Das an der Fallschule identifizierte Spannungsfeld, das zwischen dem Wunsch, den Nachmittagsbereich an der Lebenswelt der Kinder zu orientieren und dem Anspruch, durch den verlängerten Aufenthalt im schulischen Kontext Deutsch zu intensivieren, besteht, kann vor dem Hintergrund bestehender Forschung als charakteristisch für Bildungsinstitutionen in der Migrationsgesellschaft gesehen werden.
Literatur:
- Breidenstein, Georg; Hirschauer, Stefan; Kalthoff, Herbert; Nieswand, Boris (2015): Ethnografie. Die Praxis der Feld-forschung. 2. überarbeitete Auflage. Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft; UVK/Lucius (UTB Sozial-wissenschaften, Kulturwissenschaften, 3979).
- Busch, Brigitta (2017): Mehrsprachigkeit. 2. Auflage. Wien: facultas (UTB Sprachwissenschaft, 3774).
- Charmaz, Kathy (2014): Constructing grounded theory. 2nd edition. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: SAGE
- Heller, Monica (2008): Doing Ethnography. In: Li Li und Melissa G. Moyer (Hg.): The Blackwell guide to research methods in bilingualism and multilingualism. Malden, Mass.: Blackwell Publ, S. 249–262.
- Pennycook, Alastair (2010): Language as a local practice. 1st ed. Milton Park, Abingdon, New York: Routledge.
- Dauer: eingereicht/abgeschlossen 2020
- Projektleitung: Farina Böttjer
- Drittmittelgeber: Promotionspreis der Görres-Gesellschaft