Junge Forschung: Adoleszenz und Bildung anhand literarischer Texte rekonstruierenLena-Maria Nägle im Gespräch
26. Juni 2024
Foto: privat
Wie sind adoleszente Bildungsverläufe unter Bedingungen der Ungleichheit möglich? Lena-Maria Nägle forscht zu dieser Frage und greift dabei auf ein bisher wenig genutztes Material zurück: literarische Texte. Im Interview nimmt sie uns mit in die Sprache und Konzeptwelt einer bildungstheoretisch engagierten Wissenschaftlerin und die Faszination für zeitgenössische literarische Texte französischer Autor:innen.
Zur Reihe „Junge Forschung“
Woran arbeiten eigentlich junge Erziehungswissenschaftler:innen? Und wo können sie aus ihrer Forschungsarbeit interessante Impulse für die Praxis einbringen? In einer neuen Reihe stellen wir junge Forschende aus unserer Fakultät und ihre Arbeit vor - und zwar im Interview mit unserem Leiter der Graduiertenschule, Dr. Markus Friederici.
Womit beschäftigst du dich in deiner Arbeit?
In der Adoleszenz haben junge Menschen die Chance und die Aufgabe, sich von ihren Eltern zu lösen und einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln. Wenn man mit Bildung nicht nur die Aneignung von Wissen und Kompetenzen meint, sondern auch die grundlegende Veränderung des Verhältnisses zur Welt, zu anderen und zu sich selbst, dann lässt sich dieser Prozess der Individuierung als ein adoleszenter Bildungsprozess verstehen. In einem solchen Verständnis ist die Adoleszenz dann vor allem ein Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse. Gleichzeitig ist die Adoleszenz aber auch ein soziales Privileg und ein Produkteur von sozialer Ungleichheit. Die Chancen für adoleszente Entwicklungen sind nämlich gesellschaftlich ungleich verteilt. Auch wenn die Adoleszenz Neuentwürfe erlaubt, sind die Spielräume dafür maßgeblich von Zugehörigkeitsordnungen, wie Klasse oder Geschlecht, strukturiert.
In bildungswissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Bedeutung von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen beschäftigen, konnte bereits gezeigt werden, dass solche Zugehörigkeitsordnungen nicht vollständig determinierend sind. Es gibt auch die Möglichkeit gegen die Ordnung aufzubegehren. Diese Widerständigkeit wird in einer bildungstheoretischen Auslegung dann als Indiz für einen gelungenen Bildungsprozess verstanden.
Wenn Zugehörigkeitsordnungen also mächtige Instanzen darstellen, die die Chancenstruktur der Adoleszenz beeinflussen, unter welchen Bedingungen gelingt es Jugendlichen dann, gegen die Ordnung aufzubegehren? Dieser Frage widme ich mich in meiner Promotion. Dabei geht es mir vor allem um den konkreten Zusammenhang von adoleszenten Bildungsprozessen, Zugehörigkeitsordnungen und Generationenverhältnissen. Erstgutachter meiner Promotion ist Prof. Dr. Hans-Christoph Koller.
Wie gehst du dabei vor?
Üblicherweise wird bei der Erforschung biographischer Bildungsprozesse auf narrative Interviews zurückgegriffen. In meinem Promotionsprojekt mache ich das etwas anders: Ich befasse mich mit den autosoziobiographischen Texten von Édouard Louis. Dabei handelt es sich um eine literarische Gattung, die in der letzten Zeit hohe Wellen geschlagen hat. Zu den bekanntesten Vertreter:innen des Genres gehören neben Édouard Louis auch Annie Ernaux, die gerade den Literaturnobelpreis gewonnen hat, und Didier Eribon mit seinem Werk Rückkehr nach Reims.
Autosoziobiographien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die biographische Erzählung individueller Lebenswege mit einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Mechanismen verknüpfen. In ihrer idealtypischen Form sind sie als biographischer Bericht einer erwachsenen Erzählinstanz angelegt, die sich, nachdem ihr selbst der Klassenaufstieg gelungen ist, mit ihrer Herkunft aus der Arbeiter:innenklasse auseinandersetzt. Dieser Klassenwechsel ist dann auch häufig das zentrale Motiv der Erzählung. Über die Auseinandersetzung mit Kindheits- und Jugenderfahrungen werden die damit verbundenen Herausforderungen reflektiert. Dabei geht es häufig um Erfahrungen von Scham, Diskriminierung, soziale Ungleichheit und Verteilungskonflikte.
Édouard Louis erzählt seinen Klassenaufstieg als Zusammenspiel von sozialer Herkunft, Reproduktionslogik und Geschlechterordnungen. Damit erlaubt sein Werk eine differenzierte Betrachtung der Chancenstruktur adoleszenter Möglichkeitsräume. Aus einer adoleszenz- und bildungstheoretischen Perspektive, wie ich sie verfolge, sind seine Texte allerdings auch deshalb so interessant, weil sie die intergenerationale Verschränktheit adoleszenter Bildungsprozesse thematisieren – Louis schreibt nämlich nicht nur über seinen eigenen Lebensweg, sondern auch über den seiner Eltern:
Dieses Potenzial nutze ich in meiner Forschung, indem ich die spezifische Perspektive, die Louis’ Texte auf adoleszente Bildungsprozesse eröffnen, rekonstruiere. Dabei verstehe ich die Werke nicht als Illustrationsobjekt, sondern nutze sie gerade auf ihr Irritationspotenzial hin. Es geht mir darum, mithilfe des literarischen Materials bereits bestehende theoretische Überlegungen auszudifferenzieren und kritisch weiterzuentwickeln.
Welche Ergebnisse hast du erhalten?
Die Idee, literarische Texte zum Ausgangspunkt meiner Forschung zu machen, geht auf einen Ansatz zurück, der seit einigen Jahren vermehrt diskutiert wird. Ein anerkanntes Methodenrepertoire, wie es sich für narrative Interviews etabliert hat, existiert für die „Pädagogische Lektüre literarischer Texte" aber noch nicht. In meiner Promotion beschäftige ich mich deshalb auch intensiv mit methodischen und methodologischen Fragen.
Dabei komme ich zu dem Schluss, dass literarische Texte als ästhetische Phänomene gefasst werden müssen, deren Sinngehalt sich nur hermeneutisch erschließen lässt, und es sinnvoll ist, bei der Konzeption methodischer Verfahren eine literaturwissenschaftliche Perspektive einzuschlagen, die es erlaubt die spezifischen ästhetischen Qualitäten des jeweiligen Textes zu berücksichtigen. Ich schlage deshalb ein hermeneutisch-rekonstruktives Verfahren vor, das ich gezielt um Modelle und Analysekategorien aus der Erzähltheorie ergänze.
Was meine theoretische Suchrichtung betrifft, sind die Rekonstruktionen noch nicht abgeschlossen. Meine Analysen betonen die Bedeutung sozialer Ressourcen für adoleszente Entwicklungen. Klar ist allerdings bereits, dass sich der Zusammenhang von Zugehörigkeitsordnungen, Generationenverhältnissen und adoleszenten Bildungsprozessen, in Louis’ Texten ambivalenter gestaltet, als es eine theoretische Perspektivierung, wie ich sie anfangs angesprochen habe, zunächst suggeriert. Ein zentrales Ergebnis ist bspw., dass Bildungsprozesse nicht ausschließlich als Akt des Widerstands konzipiert werden sollten, sondern stärker berücksichtigt werden muss, dass diese auch von der Suche nach Anerkennung bestimmt werden können. Ein zweites Ergebnis, von dem ich hier berichten kann, bezieht sich auf adoleszente Generationenverhältnisse: Die Adoleszenz wird bisher vor allem als Phase der Ablösung der Eltern- durch die heranwachsende Generation verstanden. In meiner Rekonstruktion wird deutlich, dass sich adoleszente Bildungsprozesse auch als intergenerational verwobene Prozesse verstehen lassen, bei denen sich auch auf Seiten der Elterngeneration Chancen für Bildungsprozesse eröffnen können.
Welche Relevanz haben deine Ergebnisse für konkrete Praxisfelder?
Adoleszente Bildungsprozesse verlaufen nicht automatisch und können auch nicht pädagogisch hergestellt werden wie in einem technischen Produktionsvorgang. Trotzdem kann pädagogisches Handeln dazu beitragen, Bedingungen herzustellen, die Bildungsprozesse begünstigen. Für schulische und außerschulische Bildungsangebote könnte dies bspw. bedeuten, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse stärker ins Bewusstsein zu rücken und auch die eigenen Verstrickungen und Normalitätsvorstellungen kritisch zu reflektieren.
Gleichzeitig halte ich es für entscheidend, die Komplexität eines Bildungsgeschehens anzuerkennen. Dass auch marginalisierte Subjektpositionen ein subversives Potenzial zugeschrieben werden kann, darf dabei allerdings nicht als Legitimation bestehender Verhältnisse verstanden werden. Pädagogisches Handeln kann und sollte dazu beitragen, soziale Ungleichheitsverhältnisse abzubauen.
Gibt es eine Quintessenz deiner Arbeit?
Ich kann zeigen, dass Édouard Louis’ Texte adoleszente Bildung als ein von Zugehörigkeitsordnungen intergenerativ strukturiertes und ambivalentes Geschehen erzählen. Insofern lässt sich als eine Quintessenz meiner Arbeit festhalten, dass Adoleszenz und Bildung komplexe Prozesse darstellen, die sich nicht mit einfachen Modellen erklären lassen. Eine zweite Quintessenz betrifft das spezifische Material: Literarische Texte können die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Theoriebildung weiter voranbringen.
Zur Person
Lena-Maria Nägle ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Zum Scheitern pädagogischer Ambitionen im Spiegel literarischer Texte“ an der Fakultät für Erziehungswissenschaft (UHH). In ihrer Forschung arbeitet sie zu adoleszenz- und bildungstheoretischen Perspektiven unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Individuation. Dabei beschäftigt sie sich insbesondere mit dem Forschungsansatz der Pädagogischen Lektüren literarischer Texte.