Junge Forschung: Ist Lernen im Gefängnis möglich?Milagros Manavi Herrera im Gespräch
29. Mai 2024
Foto: privat
Können im Zwangskontext Gefängnis überhaupt Lernprozesse stattfinden? Milagros Manavi Herrera sagt: ja. Sie hat die Prozesse und Gelingensbedingungen anhand von biografischen Interviews mit jungen inhaftierten Personen untersucht. Im Interview erklärt sie, was grundlegend für die Ermöglichung von Lernen für die Jugendlichen ist und wie sie aus der Perspektive als Lehrerin darauf schaut.
Zur Reihe „Junge Forschung“
Woran arbeiten eigentlich junge Erziehungswissenschaftler:innen? Und wo können sie aus ihrer Forschungsarbeit interessante Impulse für die Praxis einbringen? In einer neuen Reihe stellen wir junge Forschende aus unserer Fakultät und ihre Arbeit vor - und zwar im Interview mit unserem Leiter der Graduiertenschule, Dr. Markus Friederici.
Worum geht es in deiner Arbeit?
Meine Studie geht der Frage nach: Welche Lernerfahrungen sind im Interaktionsfeld Gefängnis zu beobachten? Zu diesem Zweck habe ich biographische Interviews mit acht Jugendlichen geführt, die durchschnittlich eineinhalb Jahre in einer Jugendstrafanstalt inhaftiert waren.
Welche Ergebnisse hast du erhalten?
Die vorherrschende Meinung ist, dass in Gefängnissen und anderen geschlossenen Einrichtungen keine positiven Lernprozesse möglich sind, weil die dort herrschenden Zwangs-Settings Motivation und Freiwilligkeit unterdrücken. Die Ergebnisse meiner Studie zeigen aber auf, dass sich die Einstellungs- und Verhaltensmuster der Jugendlichen unter bestimmten Bedingungen sehr wohl positiv verändern können. Das heißt: Auch während der Haftzeit finden Lernprozesse statt. Dabei kann es um die Fähigkeit zur Selbstreflexion gehen, um das Erlernen einer strukturierten Alltagsbewältigung oder um eine Wiederankoppelung an schulisches und berufliches Lernen. Jeder kleine Schritt stellt für diese Jugendlichen einen Erfolg dar. Die Studie zeigt aber auch, dass angestoßene Lernprozesse oft nicht fortgesetzt oder gefestigt werden können. Solche Unterbrechungen werden dann auf Erfahrungen des Versagens reduziert, was die Kontinuität des Lernens zusätzlich behindert.
Gibt es eine Quintessenz deiner Arbeit?
Die Studie zeigt, dass vor allem Beziehungsaspekte darüber entscheiden, ob Lernprozesse stattfinden. Positive Lernprozesse sind auch im Zwangskontext einer Jugendstrafanstalt möglich, sie hängen aber stark von der Qualität der Beziehungen ab, die Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Lehrer*innen, Ausbilder*innen usw. mit den Jugendlichen aufbauen. Die Jugendlichen ziehen die Kraft für Veränderungen zunächst nicht aus eigenen Zielen, sondern daraus, dass ihnen etwas an der Wertschätzung einer Bezugsperson liegt. Mit der Entlassung enden aber die während der Inhaftierung aufgebauten Beziehungen. Das wirft immer auch die Frage auf, ob und welche Lernerfahrungen nach der Entlassung aufrechterhalten werden können.
Was würde die Wissenschaftlerin Milagros der Lehrerin Milagros empfehlen?
Offenheit, Neugierde und viel Respekt vor der Biografie und der Persönlichkeit des jungen Menschen, der vor mir steht. Es ist unglaublich, was diese jungen Menschen durchmachen mussten, um zu überleben, bevor sie ins Gefängnis kamen. Ich würde der Lehrerin Milagros nahelegen, dem relational-emotionalen Aspekt zwischen Lehrer und Schüler mehr Bedeutung beizumessen und daran zu arbeiten. Das ist der Schlüssel, um dem Schüler zu helfen, seine Biografie zu verstehen und aus ihr zu lernen. Junge Menschen zeigen oft eine überraschend ausgeprägte Fähigkeit zur Reflexion über ihre Lebens- und Lernerfahrungen, wenn man ihnen nur den Raum dazu gibt. Wenn es der Schule gelingt, solche Räume zu schaffen, hilft sie auch benachteiligten und marginalisierten Jugendlichen dabei, Perspektiven zu entwickeln, die über ihre oft bedrückenden „Alltagswelten“ hinausreichen.
Zur Person
Milagros Manavi Herrera hat am Arbeitsbereich Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung der Fakultät für Erziehungswissenschaft (UHH) zum Thema "Gefängnisaufenthalt als Interaktionsfeld für Lernprozesse" promoviert (Betreuung Prof. Dr. Joachim Schroeder und Prof. Dr. Werner Kuhlmeier). Sie war 15 Jahre lang als Lehrerin in der Jugendstrafanstalt in Wittlich tätig. Seit 2022 arbeitet sie an der Justizvollzugsschule Rheinland-Pfalz und bereitet AnwärterInnen des mittleren Dienstes auf ihre Tätigkeit im Justizvollzug vor. Dabei liegen ihre Schwerpunkte auf der Ausbildung und fachlichen Begleitung der AnwärterInnen sowie auf der pädagogischen Beratung des Lehrpersonals.