"ChatGPT ist erst die Spitze des Eisbergs"Zwei Professorinnen der Erziehungswissenschaft zu KI im Bildungskontext
2. März 2023
Foto: UHH/EW
„Machst du das Interview zu ChatGPT dann bitte heute noch fertig?“. Na klar, brauche nur noch schnell eine gute Einleitung. „Schreibe mir eine kurze Einleitung zu einem Interview mit zwei Professorinnen der Erziehungswissenschaft, die zu ChatGPT und dessen Bedeutung für die heutige Bildung befragt wurden.“, schreibe ich in das Chatfenster der KI-Software. Innerhalb von 30 Sekunden habe ich einen akzeptablen Vorschlag für den Einstieg in das folgende Interview:
„In diesem Interview sprechen wir mit zwei Professorinnen der Erziehungswissenschaft über ChatGPT und seine Bedeutung für die heutige Bildung. ChatGPT ist ein leistungsfähiges Sprachmodell, das auf maschinellem Lernen basiert und in der Lage ist, menschenähnliche Antworten auf komplexe Fragen zu generieren. Die Integration von ChatGPT in die Bildung könnte das Lernen und die Informationsbeschaffung revolutionieren. In diesem Gespräch werden wir erfahren, wie ChatGPT das Lernen und die Lehre in der heutigen Zeit verändern kann, welche Vor- und Nachteile es bietet und welche Auswirkungen es auf die Bildungslandschaft haben könnte.“
Da bleibt nicht mehr viel hinzuzufügen. Prof. Dr. Ann-Katrin van den Ham, Juniorprofessorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Methoden der empirischen Bildungsforschung und Prof. Dr. Ingrid Lohmann, Professorin für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung, erklärten sich zu einem schriftlichen Interview bereit und sprachen aus ihren Perspektiven über die derzeit heiß diskutierte Sprach-KI.
Wie ordnen Sie ChatGPT im Zeitverlauf der Bildungs- und Erziehungswissenschaft ein?
Prof. Dr. Lohmann: Diese Frage ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gut zu beantworten, weil sich da in nächster Zeit noch sehr viel tun wird: Weiterentwicklung des Chatbots, Einbau in die MS-Office-Anwendungen, Integration von Bing usw. Aber man kann schon sagen, dass wir es mit einer Revolution in der Art zu tun haben, wie Wissen aufbereitet, angeeignet und strukturiert wird. ChatGPT wird die gesamte Architektur des Wissens verändern. Als Vergleichsgrößen kommen die Erfindung des Buchdrucks und die Erfindung des Internets in den Sinn, im pädagogischen Zusammenhang auch die Kombination von Text und Bild in Comenius’ Orbis sensualium pictus im 17. Jahrhundert. Dieses Werk eröffnete einen neuen Blick auf Alltagsrelevanz und Anschaulichkeit von Wissen.
Prof. Dr. van den Ham: Für die Bildungs- und Erziehungswissenschaft spielen neue technische Entwicklungen und Möglichkeiten der Informationsgewinnung eine große Rolle. Denn solche bedeutenden Veränderungen wirken sich zum einen auf ihren Forschungsgegenstand und auf das Umfeld, für welches sie Fachpersonal ausbilden, aus. Zum anderen wirken sich die neuen Technologien auch auf die Art und Weise der Generierung wissenschaftlicher Ergebnisse aus.
Mit der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung wuchs z.B. auch die Bedeutung von Data Literacy für die Bildungs- und Erziehungswissenschaft. Die rasante Weiterentwicklung von KI in der Form, wie sie heute durch ChatGPT vorliegt, war zwar auf Dauer zu erwarten, kam für die meisten aber früher und plötzlicher als gedacht.
Um ihre Legitimität zu bewahren und zu stärken, müssen die Bildungs- und Erziehungswissenschaft ihre Forschungsfelder und Herangehensweisen stets im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen überprüfen und überarbeiten. Dieser Prozess spiegelt sich auch jetzt in den aktuellen Diskussionen um ChatGPT in der Fachcommunity wider.
Was bedeutet ChatGPT für die Bildungslandschaft im Allgemeinen?
Prof. Dr. van den Ham: Zum einen ist aufgrund der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen von KI davon auszugehen, dass das Thema Einzug in die Lehrpläne halten muss. Schließlich wird KI wie ChatGPT Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen etc. haben.
Auch im Zusammenhang damit müssen wir uns fragen, welche Kompetenzen eigentlich durch das Bildungssystem erreicht und durch Bildungszertifikate bestätigt werden sollen. Dass die reine Reproduktion von Wissen durch KI wie ChatGPT übernommen werden kann, macht noch einmal deutlich, dass dies als Bildungsziel und Prüfungsinhalt unzureichend ist und betont die Relevanz von Kompetenzen wie dem kritischen Denken.
Prof. Dr. Lohmann: ChatGPT ist erst die Spitze des Eisbergs. Alle Bereiche unseres Lebens werden durch KI-gestützte Tools verändert werden, vom Gesundheitssystem über rechtliche Beratung bis zur Unterhaltungsindustrie, auch berufliche und wirtschaftliche Tätigkeiten aller Art. Hier geht es auch um Geschwindigkeit. Wer als erstes neue Chancen nutzt, wird einen massiven Vorteil ausbauen, den andere später nicht mehr einholen können. Die Chancen sind riesig, aber sie werden nicht lange bestehen bleiben, denn hier sind Märkte zu erobern. Der Kampf hat längst begonnen; wir werden sehen, ob ChatGPT und Microsoft die Nase vorn behalten, ob Google mit Bard nachziehen kann, wie es um die Kosten für die Nutzung steht, um Copyright, Datenschutz und die Sicherheit der Privatsphäre.
Welche Chancen ergeben sich aus ChatGPT?
Prof. Dr. van den Ham: ChatGPT kann „Hilfsarbeiten“ erledigen und dadurch Zeit und Ressourcen sparen. Zum Beispiel kann ChatGPT dabei unterstützen, Material in einfacher Sprache zu generieren, Texte zusammenzufassen, Aufgaben und Übungen zu generieren, beim Programmieren von Code zu unterstützen und Fehler zu beheben etc. Dabei ist jedoch wesentlich, dass die NutzerInnen über die nötigen Kompetenzen verfügen, mit diesem Tool umzugehen, die richtigen Fragen bzw. Prompts zu stellen und den Output zu reflektieren sowie auf seinen Gehalt hin zu bewerten.
Prof. Dr. Lohmann: Um die Chancen zu verstehen, muss man in Betracht ziehen, dass im Prinzip jede und jeder mit den KI-Tools alles Mögliche produzieren kann, von Programmieren bis hin zum Produzieren ganzer Videospiele, ohne selbst programmieren zu müssen. Wir sehen ja schon jetzt, das ChatGPT programmieren kann. Es gibt KI-gestützte Tools, die auf Basis einfacher Eingaben ganze Videos in Echtzeit generieren können. Noch mag das Endprodukt eher wie Spielerei anmuten, aber in einigen Jahren wird die Qualität mit Kinofilmen mithalten können. Hier kommt ein Science-Fiction-Roman von Neal Stephenson aus den Neunzigern in den Sinn, er heißt im Untertitel „A young lady’s illustrated primer“ und ist eigentlich ein Bildungsroman. Der Primer ist ein fiktives KI-Gerät, nicht größer als ein Tablet – eine bebilderte Fibel im technologisch und moralisch avanciertesten Sinne, die der jungen Nutzerin Nell alle ihre Fragen beantwortet und ihr in ihrer Welt auch sonst weiterhilft. Die Vision könnte sein, Bildung für alle Lernenden mit personalisierten KI-getriebenen „Fibeln“ zu unterstützen. Das Bildungswesen könnte, die nötigen Ressourcen an Geld, Zeit und Zugang vorausgesetzt, Comenius’ Traum Wirklichkeit werden lassen, allen alles Wissen auf vielfältige Weise zugänglich zu machen.
Sieht zeitgemäßes Lernen nun anders aus?
Prof. Dr. Lohmann: Definitiv wird KI das Lernen verändern. Auf welche Weise, ließe sich mit Tätigkeitstheorien in der Tradition der Kulturhistorischen Schule diskutieren, die Wygotski, Leontjew, Lurija und andere begründet haben. Dieser Theorieansatz setzt mit der Frage der Entwicklung und Nutzung kultureller Werkzeuge und Zeichen einen guten Ausgangspunkt. Grundsätzlich braucht es, um Wissen im Aneignungsprozess zu strukturieren, einen zirkulären Aufbau von Kenntnissen, Fertigkeiten und Urteilskraft. Und Zeit zum Ausprobieren. Daran ändert sich nichts, jedenfalls nicht, wenn die lernenden Individuen Subjekte des Wissens werden sollen.
Prof. Dr. van den Ham: ChatGPT bietet neue Möglichkeiten für das Lernen. Wie schon erwähnt, können Lernende Fragen stellen und sich durch gezielte Nachfragen einem komplexen Thema immer weiter annähern.
Zum anderen kann ChatGPT Aufgaben lösen und auch das Schreiben von Texten übernehmen. Daher ist es umso wichtiger, auf die intrinsische Motivation der Lernenden zu setzen und diese konsequent anzusprechen. Zum Beispiel sollten die Vorteile des “selber Schreibens” herausgestellt werden. Zudem rückt die Fähigkeit zur kritischen Prüfung und Revision von Texten mehr in den Fokus.
Was bedeutet KI für das, was wir unter Bildung verstehen?
Prof. Dr. van den Ham: Haben wir überhaupt ein allgemeingültiges Verständnis von Bildung? Im Laufe der Geschichte wurde der Begriff immer wieder inhaltlich unterschiedlich ausgelegt und akzentuiert, sodass ich nicht davon ausgehen würde. Ein klarer umschriebener Begriff ist Kompetenz. Kompetenzen können definiert werden durch kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen. Dazu gehört auch die Bereitschaft und Fähigkeit, Problemlösungen in verschiedenen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Diese Definition von Kompetenzen schließt meines Erachtens auch einen kritischen, reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit KI bzw. ChatGPT ein.
Prof. Dr. Lohmann: Einsicht und Urteilskraft sind zwei Begriffe aus der klassischen modernen Bildungstheorie. Sie besagen, dass „Aneignung“ im strikten Sinne voraussetzt, dass man grundsätzlich weiß, wie Wissen oder Erkenntnisse zustande kommen, wie sie produziert werden. Das sollte man exemplarisch selbst erfahren haben und nachvollziehen können. Dazu braucht es Zeit und die Möglichkeit, selbsttätig zu lernen. Die Verfügung über Kenntnisse wird nicht weniger wichtig, im Gegenteil, denn man muss die Qualität der Auskünfte des Chatbots beurteilen können. Man muss erfahren haben, wie sehr es hierbei auf die Qualität der Eingaben, der Prompts, ankommt, die man ja selber formulieren muss. Absehbar ist, dass die KI-Entwicklung die Bildungslandschaften in den kommenden Jahren komplett umkrempeln wird. Die Gefahr ist groß, dass die digitale Spaltung weiter vertieft wird. Zu hoffen ist, dass die Chancen, die ChatGPT und andere Chatbots eröffnen, nicht in Kommerzialisierung untergehen.
Ganz herzlichen Dank an Sie beide für Ihre Einschätzungen und Denkimpulse!
Das Interview führte Jannis Müller.
Zur Person
Prof. Dr. Ann-Katrin van den Ham ist Juniorprofessorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Methoden der empirischen Bildungsforschung und hat ihren Forschungschwerpunkt unter anderem in der Evaluation von Bildungssystemen.
Prof. Dr. Ingrid Lohmann ist Professorin für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung/ Historische Bildungsforschung mit Forschungsschwerpunkten in der Erziehungs- und bildungswissenschaftliche Grundlagenforschung