Professur für Sonderpädagogik besetzt„Wie können auch besonders marginalisierte Kinder und Jugendliche an Bildungsangeboten teilhaben?“Prof. Dr. Christine Schmalenbach im Gespräch
24. Februar 2022
Foto: Harold Monterrosa
Die Fakultät für Erziehungswissenschaft darf Christine Schmalenbach als neue Professorin begrüßen. Sie ist von der Universidad Internacional Nehemías (El Salvador) nach Hamburg gekommen und hat seit Februar eine Junior-Professur an der Fakultät für Erziehungswissenschaft für „Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Lernen / emotional-soziale Entwicklung“ angetreten. Im Interview erzählt sie von Projekten in El Salvador und Indien, was sie an der Umsetzung inklusiver Bildung interessiert und wie sie mit Studierenden arbeiten möchte.
Ihr Weg als Wissenschaftlerin in fünf Sätzen?
Promoviert habe ich an der TU Dortmund zu Kooperativem Lernen an Brennpunktschulen in El Salvador (Zentralamerika). Ein Stipendium des DAAD hatte einen einjährigen Aufenthalt in El Salvador zur Datenerhebung ermöglicht. Insgesamt war ich mehrere Jahre in Dortmund als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften in der Abteilung Soziale und Emotionale Entwicklung in Rehabilitation und Pädagogik. In dieser Zeit absolvierte ich auch eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin. Nach Abschluss der Promotion vertrat ich die Professur Inklusive Bildung / emotionale und soziale Entwicklung in Erfurt. Die letzten drei Jahre war ich im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit in El Salvador und habe die NGO Asociación Centro Nehemías (ACN)/ Universidad Internacional Nehemías (UIN) bei der Entwicklung und Evaluation von pädagogischen Projekten unterstützt.
Was war ausschlaggebend für Ihre Entscheidung, an die Uni Hamburg zu kommen?
An der Universität Hamburg finde ich die vielen verschiedenen vertretenen Disziplinen spannend - ich freue mich auf den Austausch mit Kolleg*innen und auf potenzielle gemeinsame Projekte. Auch die internationalen Bezüge der Universität haben mich sehr angesprochen. An der Professur finde ich die Schnittstelle der beiden Schwerpunkte Lernen und emotional-soziale Entwicklung reizvoll.
An welchen Forschungsthemen arbeiten Sie derzeit?
Einer meiner Schwerpunkte ist Kooperatives Lernen. Dabei ist mir die Integration von Gruppenprozessen, sozial-emotionalem Lernen und fachlichem Lernen wichtig, gerade auch für Schüler*innen, die unter herausfordernden Bedingungen aufwachsen. So habe ich beispielsweise gemeinsam mit Kolleg*innen in El Salvador das LIFE-Programm entwickelt und evaluiert. Studierende führen als Service Learning in Brennpunktschulen in den Klassen 8 und 9 Workshops zu Teamarbeit und Kleinunternehmertum durch. Sowohl die Studierenden als auch die Schüler*innen erwerben dabei in einer Verknüpfung aus Theorie und Praxis unter anderem kommunikative und kooperative Fähigkeiten. Derzeit schließen wir die Evaluation des ersten Durchgangs ab.
Zusammen mit drei Kolleg*innen aus Deutschland habe ich das SeELe-Programm entwickelt. Wir haben die didaktischen Ansätze des Kooperativen Lernens und der Lernleitern (aus Rishi Valley, Indien) zusammengeführt und Materialien zur Unterstützung von sozial-emotionalem Lernen ab Sekundarstufe I erstellt. Schüler*innen können sich hier in ihrer eigenen Geschwindigkeit mit Themen wie Emotionen, Freundschaft, Kooperation, Konflikten auseinandersetzen.
Grundsätzlich interessieren mich Unterrichtsansätze, die Partizipation ermöglichen (auch und gerade im Kontext sozialer Marginalisierung), für heterogene Klassen geeignet sind und sozial-emotionales Lernen mit fachlichem Lernen verbinden; neben den Lernleitern und Kooperativem Lernen im Allgemeinen setze ich mich aktuell mit Komplexem Unterricht nach Cohen und Lotan auseinander (ein spezieller Ansatz Kooperativen Lernens) und mit Projektarbeit. Gerade mit Bezug zu den Förderschwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung gibt es zu diesen vielversprechenden Ansätzen noch deutlichen Forschungsbedarf.
Mich interessiert auch, wie (angehende) Lehrkräfte dabei unterstützt werden können, einen Unterricht zu gestalten, der ein aktives, ganzheitliches Lernen aller Schüler*innen ermöglicht – auch unter herausfordernden Bedingungen. In El Salvador sind wir beispielsweise im Rahmen der Pandemie einer Einladung von mehreren Schulleiter*innen gefolgt und haben eine interaktive Online-Fortbildung (Projekt RAICES) zu aktuell relevanten Themen aus dem Schulalltag entwickelt (Themen wie Trauma, Trauer, Stressbewältigung, Motivation, selbstreguliertes Lernen).
Ein Querschnittsthema, das mich bei diesen Projekten und Fragen immer begleitet, ist die Berücksichtigung von Kultur und Kontext als relevante Aspekte bei der Umsetzung von pädagogischen und didaktischen Ansätzen.
Zu welchen aktuellen gesellschaftlichen Themen oder Herausforderungen möchten Sie Ihre wissenschaftliche Expertise beitragen (und wie)?
In meiner Arbeit geht es im Grunde um Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe, um die Frage: Wie können Bildungsangebote so gestaltet werden, dass alle Kinder und Jugendliche (auch solche, die unter herausfordernden Bedingungen aufwachsen) daran teilhaben können und die Strategien und Kompetenzen entwickeln können, die sie brauchen, um erfolgreich durchs Leben zu kommen? Einzelnen Aspekten dieser breiten Fragestellung gehe ich in meinen Forschungsprojekten nach. In der Ausbildung von und Kooperation mit Lehrkräften möchte ich diese darin unterstützen, sich immer wieder konstruktiv mit dieser Fragestellung auseinanderzusetzen und wissenschaftlich fundierte Lösungsansätze nutzbringend in der Praxis anzuwenden.
Was erwarten Sie von den Studierenden und von sich selbst innerhalb der Lehre?
Ich bin selbst Lehrerin und unterrichte gern – ich hoffe, dass Studierende das meinen Veranstaltungen anmerken und sich anstecken lassen von meiner Begeisterung für den spannenden Prozess der Unterrichtsgestaltung. Wenn es das Format zulässt, sind meine Veranstaltungen interaktiv und kooperativ und erlauben die Auseinandersetzung mit echten Materialen und den Einbezug eigener Erfahrungen (das ist in Seminaren natürlich eher möglich als in Vorlesungen).
Dieses Zitat von Paulo Freire (1998) begleitet mich seit Jahren:
“One of the most important tasks of critical educational practice is to make possible the conditions with which the learners, in their interaction with one another and with their teachers, engage in the experience of assuming themselves as social, historical, thinking, communicating, transformative, creative persons; dreamers of possible utopias, capable of being angry because of a capacity to love.“ (S. 45)
Von den Studierenden und mir erwarte ich, dass wir uns als Lernende und (zukünftige) Lehrende auf diesen Prozess einlassen.
Wie sieht Ihre internationale und praxisbezogene Zusammenarbeit aus?
Ich würde gerne auch hier in Deutschland mit Lehrkräften aus der Praxis kooperieren und dem Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis Raum geben. Gerne bringe ich mich auch in die Kooperation mit lateinamerikanischen Institutionen ein und baue diese mit aus. Insgesamt habe ich in meinem Leben sehr viel von internationalem und interkulturellem Austausch profitiert – den dadurch entstandenen Blick für verschiedene Perspektiven auf ein Thema bringe ich mit.
Ich werde von hier aus weiterhin mit Asociación Centro Nehemías (ACN)/ Universidad Internacional Nehemías (UIN) in El Salvador kooperieren. Die Fakultät für Erziehungswissenschaft kooperiert mit der Universitat de Barcelona, der Universidad El Salvador und mehreren anderen Universitäten in Mexiko, Kolumbien und Italien in einem salvadorianischen Promotionsstudiengang zu Bildung, Menschenrechten und Friedenskultur. An diesem Projekt beteilige ich mich und freue mich, dass ich auf diese Weise meine Bezüge zu El Salvador und Lateinamerika noch weiter ausbauen kann. Meine Arbeit ist geprägt worden durch den Austausch mit NGOs in anderen Ländern beispielsweise aus Peru und Indien, die aus der Praxis heraus spannende didaktische und pädagogische Konzepte entwickelt haben.
Die internationale Zusammenarbeit findet auch über die fachlichen Organisationen wie die IASCE (International Association for the Study of Cooperation in Education), die IAIE (International Association for Intercultural Education) und den ICQI (International Congress of Qualitative Inquiry) statt.
Worauf freuen Sie sich in Hamburg?
Ich freue mich auf die kulturelle Vielfalt und die internationalen Bezüge. Ich bin selbst zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen (unter anderem verschiedene Kulturen in Mexiko) und in meinem Leben oft umgezogen. Hamburg erscheint mir als ein Ort, an dem diese verschiedenen Anteile ihren Raum haben und wo ich mich zu Hause fühlen kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Ein Steckbrief von Prof. Schmalenbach findet sich im Newsroom der UHH.