Nachruf auf Prof. Dr. Jürgen Kreft
18. Mai 2020, von Claudia-Dorothee Stecher
Foto: UHH/EW
Jürgen Kreft, der am 12.4.2020 im Alter von 92 Jahren verstorben ist, lehrte von 1972 bis 1992 Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Hamburg. Mit seinem Hauptwerk „Grundprobleme der Literaturdidaktik“, das 1977 in erster Auflage erschien, und mit einer Reihe denkwürdiger Aufsätze hat er wie kein Zweiter seiner Generation die wissenschaftliche Deutschdidaktik als eine Theorie ästhetischer und sozialer Bildung begründet und geprägt. Als der 1927 in der Nähe von Berlin geborene und 1955 in Bonn literaturwissenschaftlich promovierte Jürgen Kreft 1969 im Anschluss an eine 13-jährige Tätigkeit als Gymnasiallehrer die wissenschaftliche Laufbahn zunächst als Dozent einschlug, war die Deutschdidaktik durch zwei Tendenzen geprägt: zum einen durch eine Orientierung an den wissenschaftlichen Methoden der Germanistik, deren Übertragung auf den Schulunterricht vielen anderen Didaktikern und auch Schulbuch-Entwicklern geboten schien, zum anderen durch eine Politisierung des Literaturunterrichts, von der man sich eine aufklärerische Wirkung auf Schülerinnen und Schüler versprach und die darauf zielte, an historischen und gegenwärtigen Fiktionen die Darstellung sozialer Konflikte und politisch-ökonomischer Antagonismen zu erkunden. Beiden Tendenzen stellte Kreft sich in seiner Theorie und in seiner praktischen, stets auf den Unterricht bezogenen Lehre konstruktiv entgegen.
Kreft war neben seinem Wirken in der Fachdidaktik ein in der Fachwissenschaft bis zuletzt geachteter Literaturhistoriker und -theoretiker mit Schwerpunkten in der Lessing-Forschung und der Interpretationstheorie. Zwischen 1989 und 1994 bekleidete er literaturwissenschaftliche Gastprofessuren an zwei südkoreanischen Universitäten. Doch wies er die Vorstellung einer „Isomorphie“, d.h. einer Gestaltgleichheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik zurück, und zwar für alle Fächer. Seine „Fachdidaktik im Konzept sozialer und individueller Entwicklung und Geschichte“ – so der Untertitel der „Grundprobleme“ – knüpft an die einschlägigen Forschungen und Theorien zur kognitiven und sozialen Entwicklung an, vor allem aber an den großen „universalpragmatischen“ Entwurf des Philosophen Jürgen Habermas, des für ihn so wichtigen, auf den Tag genau zwei Jahre jüngeren Zeitgenossen. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens bestimmte Kreft die Besonderheiten sprachlich-ästhetischer Entwicklung systematisch und historisch und gelangte zu einer bildungstheoretisch begründeten Verortung literarischer Lerngegenstände. Das Schiff seiner Theorie erreichte so die germanistische Fachwissenschaft gleichsam am rückwärtigen Ufer – nach einer Weltumseglung, die an den unterschiedlichen Bezugs-Disziplinen entlangführe.
Auf der Grundlage von Krefts Theorie oder unter dem Einfluss seines Fortwirkens wurden unzählige Unterrichtsstunden geplant und reflektiert. Wer mit Kreft über das didaktische Potential eines literarischen Gegenstands nachdenkt, stellt nicht die bloß methodische Frage, wie man jungen Menschen den Fachinhalt interessant und lehrreich vermitteln kann. Im Geiste der „Grundprobleme“ muss man vielmehr genuin fachdidaktisch fragen: Welche (wissenschaftliche oder außerwissenschaftliche) Modellierung welcher Aspekte und Elemente des Gegenstands sind für welchen Aspekt der Ich-Entwicklung in welcher Entwicklungsphase relevant? Mit dieser auch erkenntnistheoretisch durchdachten Herangehensweise opponierte Kreft gegen den unmittelbaren Zugriff auf den Bildungsgehalt politischer und sozialgeschichtlicher Inhalte literarischer Texte. Diese in den 1970er Jahren einflussreiche Herangehensweise wurde durch seine Theorie quasi im dreifachen Sinn Hegels aufgehoben: durch Negation ihrer unmittelbaren Direktheit, durch Bewahrung Ihrer Intention auf der vermittelnden Ebene der Persönlichkeitsentwicklung und damit zugleich durch Emporhebung auf eine komplexere Konzeption von Bildung.
Beharrlich und kritisch sorgte Jürgen Kreft sich bis zuletzt um das, was man als Bildungspotential literarischer Texte bezeichnen kann. Dieses werde verkürzt oder sogar verfehlt, gehe man einseitig von den förderungswürdigen Fähigkeiten aus und vernachlässige dabei den konkreten Bildungsinhalt und dessen Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung. Krefts letztes, vermächtnishaftes Buch „Bildung und Unbildung“, erschienen 2019, wendet sich vehement gegen die alltägliche Verkennung dessen, was in Texten gemeint ist. Seine Kritik galt dem Theater, der Schule und auch der Literaturwissenschaft. Bis zuletzt suchte er den Dialog und den Widerspruch: 2015 schickte er mir die erste Fassung jener Kapitel von „Bildung und Unbildung“, in denen er das Regietheater und die Literaturdidaktik der letzten Jahrzehnte kritisierte – wohl wissend, dass ich ihm in einigen Punkten widersprechen würde. Genau daran war er, im Alter von beinahe 90 Jahren, brennend interessiert.
Krefts theoretische Klärung literaturdidaktischer Grundprobleme ist im interdisziplinären Diskurs der Entstehungszeit so tief verwurzelt wie keine andere mir bekannte Didaktik des Faches. Dadurch und durch die beharrliche Orientierung an der praktischen und empirischen Relevanz für den Unterricht überragt sein Werk jede synkretistische Zusammenstellung von Rahmentheorien und jedes Mitschwimmen auf den Konjunkturwellen fach- und bildungswissenschaftlicher Paradigmen. So erklärt sich die auf den ersten Blick verblüffende Aktualität, die sein Werk in aktuellen Debatten unseres Jahrhunderts als Ressource kritischer Reflexion gewinnt.
1. Adaption an Schülervorstellungen
In den naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken etablierten sich in den 1990er Jahren verstärkt Richtungen, die jeden Fachgegenstand zunächst unter dem Gesichtspunkt der über ihn vorhandenen Schülervorstellungen betrachten, wobei z.T. das Entdecken fachlicher Inhalte in Alltagskontexten eine entscheidende Rolle spielt. Auch und gerade Fehlkonzepte werden als unhintergehbare und überdies wertvolle Erkenntnisgrundlage betrachtet. In den „Grundproblemen“ zielte Kreft auf Ähnliches. Anknüpfend an die in den späten 1960er Jahren begründete literaturwissenschaftliche „Rezeptionsästhetik“ entwickelte er ein bis heute extrem einflussreiches Phasenmodell der literarischen Erkenntnis und des Unterrichts, an dessen Beginn die notwendige subjektive „Verstrickung“ in den Gegenstand steht. Auf der Grundlage ihres Vorwissens formulieren Schülerinnen und Schüler ein erstes unreflektiertes Verstehen – Alltagsvorstellungen vom Textsinn –, an das jeder weitere Schritt einer objektivierenden Herangehensweise anknüpfen muss. Dieses Muss ist keine kontingente normative Setzung, sondern eine hermeneutisch, lerntheoretisch und empirisch untermauerte Einsicht in Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens und Lernens.
2. Wissenschaftlichkeit des im Unterricht vermittelten Wissens
Der erwähnte Diskurs der naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken umfasst eine Diskussion über die Bildungsziele adaptiven Fachunterrichts: Ist ein conceptual change im Sinne einer Übernahme des fachwissenschaftlichen Wissens durch die Lernenden das Ziel, oder geht es um ein Drittes, um fachwissenschaftlich bereicherte und korrigierte Alltagsvorstellungen? Auch in der Deutschdidaktik und in der Germanistik werden solche Fragen diskutiert: Wie wissenschaftsförmig soll das Grammatik-Wissen der Schul-Absolvent/-innen sein? Sollen sie Erzähltexte und Spielfilme in wissenschaftlich etablierten narratologischen Kategorien analysieren können? Jürgen Kreft hat für das Fach Deutsch gegen die Auffassung argumentiert, Allgemeinbildung junger Menschen ziele auf wissenschaftliches Wissen. Vielmehr gehe es darum, dass Lehrpersonen ihr fachwissenschaftliches Wissen für den Aufbau eines elaborierten Alltagswissens der Schüler/-innen über Sprache und Literatur nutzen. Wie er zu dieser Feststellung gelangt, kann man in einem späten richtungweisenden Artikel im „Taschenbuch des Deutschunterrichts“ von 2014 nachlesen. Dort markiert er allerdings einen kategorialen Unterschied zur Wissenschaftlichkeit des Schülerwissens in naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken. Diese Überlegungen könnten Anlass sein für eine noch nicht geführte Diskussion zwischen den Fachdidaktiken: Nature of Science vs. Nature of Humanities?
3. Kompetenzorientierung
Im Zuge der Kompetenzorientierung, die mit der Jahrtausendwende im Anschluss an den PISA-Schock einsetzte, wurden unterschiedliche Kompetenzbegriffe und die mit ihnen begründbaren und beschreibbaren Kompetenzmodelle diskutiert. Dem generativen Begriff Noam Chomskys, der unter Kompetenz ein universelles angeborenes Grundvermögen versteht, stand der funktionale Begriff Franz E. Weinerts gegenüber, der Kompetenzen als historisch relative Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Problemlösung in variablen Situationen definiert. Aus deutschdidaktischer Sicht ließ sich diese Debatte in Jürgen Habermas’ universalpragmatische Theorie der Kommunikativen Kompetenz einordnen, die Jürgen Kreft nicht bloß zur theoretischen Grundlage seiner Didaktik gemacht, sondern an der er theoriebildend mitgewirkt hatte: Den von Habermas als kognitiv, moralisch und sprachlich bezeichneten Grundkompetenzen fügte er ein Konzept ästhetischer Kompetenz hinzu, welches den Umgang mit Subjektivität betrifft. Die Universalpragmatik sieht in den Bereichen Sprache, Kognition, Interaktion und Expression zwar eine universelle Kompetenzbasis gegeben, zeigt aber, dass kompetent erst ist, wer auf dieser transzendentalen Grundlage bestimmte nicht-kontingente Prozesse der Ich-Entwicklung durchlaufen hat. Kompetenzen lassen sich auf diese Weise nicht nur als funktional nützliche Fähigkeiten bestimmen, sondern zunächst als Resultate der Sozial- und Kulturgeschichte, deren Entwicklung an bestimmte Herausforderungen gebunden war. Konkret an einem Beispiel: die Schriftsteller der Aufklärung und des Sturm und Drang standen vor bestimmten historischen Gestaltungsaufgaben. Um die literarischen Lösungen und damit den Sinn der Texte zu verstehen, braucht man bestimmte Lektürefähigkeiten, die der Gegenstad selbst verlangt. Solche Überlegungen, die der genetischen Methode Martin Wagenscheins durchaus verwandt sind, machen es möglich, den Kompetenzaufbau – jenseits des Nutzenaspekts – an Prozessen der Ich-Entwicklung einerseits und an historisch verankerten Sequenzen von Bildungsgegenständen andererseits zu orientieren.
Krefts Wurf von 1977 und die Ausführungen in den nachfolgenden Jahren bildeten seinerzeit ein Fanal, an dem sehr viele Literaturdidaktiker/-innen ihren Weg ausrichteten. Einiges spricht dafür, dass seine Leuchtkraft auch weiter in die Zukunft ausstrahlen wird.
Thomas Zabka