Zusammenfassung des Podcast Bildungsschnack, im September 2022: Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung des Gespräches und darf ausschließlich nach Abstimmung mit der Urheberin (Fakultät für Erziehungswissenschaft, UHH) weiterverwendet werden.
Wenn plötzlich ein Stuhl leer bleibt
Umgang von Pädagog:innen mit einer (drohenden) Abschiebung von Schüler:innen
Moderation: Dr. Katrin Steinvoord
Intro
Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcast Bildungsschnack. Wie jeden Monat wollen wir auch heute ein spannendes Forschungsprojekt aus der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg unter die Lupe nehmen.
In dieser Folge habe ich Frau Carolina Colmenares Díaz zu Gast (sinngemäße Zusammenfassung des Gesprächs):
Thema: Abschiebung von Schulkindern
Ein paar Zahlen zum Einstieg: Seit 2016 sind mehr als 770 Schulkinder in Hamburg abgeschoben worden. Dies bringt die Institution Schule in eine schwierige Situation. Frau Colmenares Díaz untersucht in ihrer Forschungsarbeit, wie die Pädagog:innen, die in der Schule tätig sind und Kontakt zu diesen Kindern haben, darauf reagieren. Es geht hier vor allem um die Reaktionen und das Erleben und Deuten der Pädagog:innen, wenn diese erfahren, dass ein Kind von Abschiebung bedroht ist oder eines der Kinder schlicht aus der Klasse verschwindet. Dieses Projekt ist einzigartig, da hierzu bisher überhaupt keine Forschung stattgefunden hat. Das Thema Abschiebung ist ein Thema, was bisher wichtig war und sehr wahrscheinlich auch wichtig bleibt. Für Carolina Colmenares Díaz ist es wichtig, den Fokus auch einmal auf die Lehrkräfte zu legen und deren Situation bzw. den Umgang mit einer solchen Situation in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen.
Perspektive der Pädagog:innen einholen
Für die Forscherin war es sehr schwer, an Personen zu kommen, die bereit waren mit ihr über dieses Thema zu sprechen. Ein Kontakt lief zunächst über die Schulen, wo bekannt war, dass dort Schüler:innen abgeschoben worden sind. Zum Teil haben sich glücklicherweise Lehrkräfte, Sonderpädagog:innen und Sozialpädagog:innen dazu bereit erklärt ein Interview zu führen. Insgesamt wurden neun Interviews ausgewertet. Diese Interviews wurden halboffen geführt. Das heißt, dass Frau Colmenares Díaz zum Teil nach expliziten Inhalten gefragt hat. Andererseits sollte auch genügend Raum für die je eigenen Fokusse der Pädagog:innen bleiben. Die Gruppe der Befragten Personen ist homogener geworden, als dies zu Beginn der Forschung anvisiert wurde. Ziel war es, alle möglichen Reaktionen auf eine (drohende) Abschiebung einzufangen. Nicht interviewen konnte Frau Colmenares Díaz diejenigen, die sich in ihrer Rolle als Lehrkraft nicht gegen die Abschiebung positionieren wollen oder es auch nicht leisten können. Bei der Gruppe der interviewten bündeln sich nun jedoch Pädagog:innen, die sich stark gegen eine solche (drohende) Abschiebung positionieren oder auch versuchen, dagegen zu handeln. Alle interviewten Pädagog:innen hatten Erfahrungen mit Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK). Dadurch entsteht der Eindruck, dass nur die internationalen Vorbereitungsklassen betroffen sind. Dies ist allerdings in der Realität anders.
Erste Ergebnisse – Drei Ebenen der Reaktionen
Mikro Ebene – Beziehungsarbeit: Hierunter fällt beispielsweise, dass die Pädagog:innen den Betroffenen ein offenes Ohr für ihre Probleme signalisieren. Die Kinder immer wieder zu fragen, wie es ihnen geht und auch zu erkennen, wenn diese beispielsweise müder sind als sonst. Teilweise wird von den Pädagog:innen aber auch das Gespräch mit den Eltern gesucht.* Vor allem Gespräche mit den Schüler:innen, den Eltern und die Vernetzung mit Kolleg:innen geben die befragten Pädagog:innen als mögliche Reaktion auf eine (drohende) Abschiebung der Kinder an.
[*Der Aufenthaltsstatus ist ein Thema, welches tabuisiert ist und in deutschen Schulen eine schwierige Geschichte hat. Bis 2011 mussten Schulen der Polizei bzw. der Ausländerbehörde mitteilen, wenn sie den Verdacht hatten, dass Kinder keinen legalen Aufenthaltsstatus haben.]
Meso Ebene – Organisationsarbeit: Die befragten Pädagog:innen geben an, dass sie sehr viel Kommunikation betreiben, zum Beispiel mit Beratungsstellen und Rechtsanwält:innen. Außerdem treten einige Pädagog:innen an Kirchen heran, die Kirchenasyl beantragen können. Die Kinder und ihre Familien werden des Weiteren von einigen organisatorisch, beispielsweise bei Behördengängen unterstützt.
Makro Ebene – Politische Arbeit: Hier engagieren die befragten Pädagog:innen sich im weitesten Sinne politisch. Es werden Kampagnen durchgeführt, beispielsweise mit Videos, die Druck auf die Härtefallkommission ausüben sollen. Es geht aber auch darum, Petitionen zu initiieren und durchzuführen.
Relevanz der Ergebnisse
Die Ergebnisse können vor allem auch für Akteur:innen in der Schule interessant sein. Exemplarisch aufgezeigt zu bekommen, was möglich ist, wenn einem dieses Thema begegnet kann den Betroffenen helfen, Handlungsalternativen zu bedenken. Auch für Beratungsstellen kann es spannend werden, sich die Ergebnisse der explorativen Studie anzuschauen und die Perspektive der Pädagog:innen besser zu verstehen. Die Studie kann also die Sicht der Pädagig:innen sichtbar machen, neue Wege der Kommunikation und der Handlungsoptionen aufzeigen. „Es ist auch eine Anerkennung dessen, was gemacht wird und häufig nicht sichtbar wird“, so Frau Colmenares Díaz. Das Thema Abschiebung und internationale Vorbereitungsklassen ist ein Thema, welches sich bisher vorwiegend an Stadtteilschulen manifestiert.
Stolpersteine auf dem Weg der Forschung
Besonders anstrengend war für Frau Colmenares Díaz die Zusammenstellung der Stichprobe. Die Gruppe konnte nicht in der Vielfalt zusammengestellt werden, die sie sich gewünscht und erhofft hatte. Beispielsweise konnten die Interviews nicht mit Schulleiter:innen geführt werden, da dies eine repräsentative Rolle ist und die Anonymisierung teils sehr kompliziert ist, sodass mehrere angesprochenen Schulleitungen nicht dazu bereit waren über die vergangenen oder aktuellen Erlebnisse zu sprechen.
Besondere emotionale Momente
Für die Forscherin waren einige Momente während der Auswertung und Verschriftlichung der Interviews besonders emotional. Frau Colmenares Díaz berichtet, dass sie bei der Führung der Interviews sehr konzentriert war und einige Momente gar nicht richtig wahrgenommen hat. Dann, später, bei der Beschäftigung mit dem Material und vor allem, bei dem wiederholten Anhören der Stimmen und Stimmlagen, war der Fokus bei den Emotionen der Pädagog:innen. In der Momentaufnahme ist sie der Person, die sie dort interviewt hat, sehr nahegekommen. „Dass ich manchmal laut lachen musste oder auch Tränen in den Augen hatte“ ist ihr aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben. Für Frau Colmenares Díaz steht fest, die interviewten Pädagog:innen waren sehr großzügig und mutig. Großzügig, weil sie sehr offen und detailliert für die Forschung ihre Situation dargelegt haben. Mutig, weil manche Dinge die sie geschildert haben auch in einer rechtlichen Grauzone liegen.
Was bleibt offen?
Bei mehr Zeit würde Frau Colmenares Díaz gerne an folgenden Punkten weiter forschen:
- Schulleitungen befragen und deren Rollenambivalenz beleuchten
- betroffene Schulkinder und deren Familien zu ihrer Situation befragen
Outro
Dies war eine Folge vom Bildungsschnack. Jeden Monat wird hier ein Forschungsprojekt der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg vorgestellt – wenn Sie wissen wollen, zu welchen Themen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an unserer Fakultät forschen, wie genau sie das eigentlich machen und welche Relevanz das für Bildung und Gesellschaft hat, dann abonnieren Sie uns bei Spotify oder iTunes oder besuchen uns auf der Seite des Bildungsschnacks.
Danke für’s Zuhören, Tschüss und bis zum nächsten Mal!