Zusammenfassung des Podcast Bildungsschnack, im Juni 2023: Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung des Gespräches und darf ausschließlich nach Abstimmung mit der Urheberin (Fakultät für Erziehungswissenschaft, UHH) weiterverwendet werden.
Bildungsschnack:
Sprachliches und fachliches Lernen – zwei Seiten einer Medaille
Schlagworte:
Sprachexpliziter Unterricht, Physikdidaktik, Unterrichtsentwicklung
Moderation:
Dr. Katrin Steinvoord
Intro:
Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcast Bildungsschnack. Wie jeden Monat wollen wir auch heute ein spannendes Forschungsprojekt aus der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg unter die Lupe nehmen.
In dieser Bildungsschnack-Folge sind Prof. Dr. Dietmar Höttecke und Dr. Hanne Brandt zu Gast. (sinngemäße Zusammenfassung des Gesprächs):
Prof. Dr. Dietmar Höttecke ist aus dem Arbeitsbereich der Physik-Didaktik. Dr. Hanne Brandt arbeitet im Bereich der interkulturellen und international vergleichenden Erziehungswissenschaft. Beide berichten in dieser Podcast-Folge von ihrem gemeinsamen Projekt „PHYDIV“.
Dr. Hanne Brandt erläutert, dass PHYDIV für „Physikunterricht im Kontext sprachlicher Diversität“ steht. „Unsere Frage ist, ob ein sprachexpliziter Unterricht dabei dienlich ist, dass Kinder und Jugendliche fachliches Wissen in einem Fach wie Physik besser aufbauen können.“, sagt Höttecke und führt den Begriff des sprachexpliziten Unterrichts weiter aus: Natürlich komme kein Unterricht, auch kein Physikunterricht, ohne Sprache aus und Kern eines Unterrichts sei ja meistens das Gespräch über physikalische Phänomene oder Begriffe. Von sprachexplizitem Unterricht kann gesprochen werden, wenn Sprache als Medium des Lernens, als Medium der Kommunikation oder des Denkens besondere Aufmerksamkeit bekommt.
Neben Prof. Dr. Höttecke als Physikdidaktiker gibt es einige weitere Wissenschaftler:innen im Projekt, die ihre unterschiedlichen Zugänge und Komponenten miteinbringen. Das Team besteht vor allem aus Physikdidaktiker:innen und Erziehungswissenschaftler:innen mit dem Fokus auf Sprache. Dr. Hanne Brandts wissenschaftlicher Hintergrund liegt bei Sprache im Fachunterricht bzw. Educational Linguistics.
Zum Forschungsvorgehen erklärt Höttecke: Um die Effekte von sprachexplizitem Unterricht zu erforschen wird eine Experimentalstudie durchgeführt. In diesem bildungsforschenden Experiment wird versucht, die Wirkung von zwei besonderen Unterrichtsvarianten zu erheben, und zwar im Kontrast zu einer Kontrollgruppe. Die Kontrollgruppe und auch die anderen beforschten Experimental- bzw. Interventionsgruppen lernen etwas über das ganz zentrale, physikalische Konzept „Energie“. Eine der Experimentalgruppen erhält genannten sprachexpliziten Unterricht. Das bedeutet zum Beispiel, dass den Schüler:innen sprachliche Hilfen angeboten werden oder besondere sprachliche Aufmerksamkeit auf die Interaktionsphasen im Unterricht gelegt wird. Die Lehrkräfte räumen den Schüler:innen in diesem Unterricht viel Gelegenheit ein, sich selbst sprachlich zu entfalten und unterstützen sie dabei, öffentlich über ihre physikalischen Ideen nachzudenken. Unterstützungselemente sind dabei zum Beispiel Lernplakate mit Formulierungshilfen oder Beschriftungen an Grafiken mit Worten, die den Schüler:innen oft fehlen. Häufiger erlebe man im Unterricht, dass Schüler:innen Sachverhalte verstanden haben, ihnen jedoch noch die Worte fehlen genau zu verbalisieren, was sie beispielsweise experimentiert haben. Der sprachexplizite Unterricht wird für das Projekt in zwei Varianten durchgeführt: einerseits ganz in deutscher Sprache, andererseits gibt es eine Variante, in der der Gebrauch unterschiedlicher Herkunftssprachen ermöglicht wird – eine zusätzliche Ressource für das Lernen vieler Schüler:innen. In Hamburg beispielsweise bringen etwa die Hälfte aller Schüler:innen eine weitere Herkunftssprache mit. Hier stellt sich die spannende Frage, ob der Gebrauch von Mehrsprachigkeit als eine Ressource für das fachliche Lernen wirkt.
Für die Umsetzung dieses voraussetzungsvollen Unterrichtes machten sich die Wissenschaftler:innen viele Gedanken: Wer soll unterrichten? Wie werden die Lehrkräfte vorbereitet? Usw. Es wurde sich dagegen entschieden, die schuleigenen Lehrkräfte den Unterricht machen zu lassen, da Lehrpersonen über die Jahre starke Routinen aufbauen, wie sie ihren Unterricht gestalten. Diese oft erfolgreichen Routinen sollten nicht verändert werden. Außerdem sind an die Unterrichtenden die Anforderungen gestellt, in den Unterrichtsvarianten einen besonderen Blick auf das Sprechen der Schüler:innen zu haben und ihnen andere Impulse zu geben. Für erfahrene, routinierte Lehrkräfte wäre es wohl nicht leicht gewesen, dies neu zu lernen. „Also haben wir einen mutigen Schritt gemacht“, sagt Höttecke, „wir arbeiten mit Studierenden, mit studentischen Hilfskräften oder wissenschaftlichen Hilfskräften.“. Diese wurden trainiert und machen diesen Unterricht – gelegentlich sind auch die Wissenschaftler:innen mit dabei. „Insgesamt muss ich sagen: das sind wirklich tolle Leute, die da mit uns zusammenarbeiten“, freut sich Höttecke und dankt. Eine Herausforderung liege darin, das gut durchdachte, entwickelte Unterrichtsskript in den jeweiligen Stunden „runterzuspulen“ und dabei authentisch zu bleiben.
Ein Jahr lang wurde dieser Unterricht in den drei Varianten (für die Kontrollgruppe, für die sprachexplizite Gruppe mit Fokus auf deutscher Sprache und für die mit Fokus auf Mehrsprachigkeit) entwickelt, erläutert Brandt. Die entwickelten Skripte sind sehr lang und fast vergleichbar mit Theaterskripten: wann soll was gesagt werden? Welche Rückfragen könnten kommen? Wie soll reagiert werden? Außerdem wurden für den Unterricht Powerpoint-Präsentationen vorbereitet. Der Unterricht ist somit recht „durchgetaktet“.
Zur Auswertung der Effekte des sprachexpliziten Unterrichts werden die Schüler:innen zu drei Zeitpunkten getestet: vor dem Unterricht, direkt danach und einige Wochen später. Hierfür wurden Items zum Thema „Energie“ entwickelt, die Schüler:innen bearbeiten müssen. Es werden daneben noch weitere Variablen getestet, wie die Sprache, die kognitiven Fähigkeiten oder die Motivation beim Physiklernen. Zusätzlich zu diesen umfangreichen Tests filmen die Wissenschaftler:innen in ausgewählten Stunden, um zum Beispiel zu prüfen, ob die Schüler:innen ihre mehrsprachigen Ressourcen tatsächlich einsetzen.
In den Klassen gab es insgesamt eine große Zahl an verschiedenen Herkunftssprachen, sodass im Projekt entschieden wurde, die Anforderung der Mehrsprachigkeit für die unterrichtenden Lehrkräfte zu senken. So wurde den Schüler:innen vor allem in Gruppenarbeitsphasen freigestellt, welche Sprache sie nutzen. Dr. Brandt erklärt, dass belegt ist, dass mehrsprachige Schüler:innen ihre Mehrsprachigkeit tatsächlich nutzen – meist, um über fachliche Themen zu sprechen. In den Gruppenarbeitsphasen werden die Schüler:innen mit der gleichen Herkunftssprache dementsprechend zusammengesetzt und ermuntert diese zu nutzen. Für viele Schüler:innen ist das erstmal eine neue Situation, in einem monolingual ausgerichteten Schulsystem angehalten zu sein, die eigene Herkunftssprache zu nutzen. „Wie gut das nun klappt, ist noch ein bisschen offen, da sind wir ganz gespannt“, sagt Brandt. Eine Doktorandin ist aktuell dabei die aufgenommenen Videos auszuwerten.
Gefragt nach ersten Forschungsergebnissen oder Ergebnistendenzen möchten sich Höttecke und Brandt nur vorsichtig äußern, da sich das Projekt gerade mitten in der Hauptstudie befindet. Zwei Drittel des Unterrichts ist gelaufen, die Vortestungen sind gemacht, die Nachtestungen noch nicht. Höttecke vermutet allerdings, dass sich die sprachexplizite Unterrichtsvariante auf den fachlichen Wissenserwerb auswirken kann, da hier, auch durch die Ergänzung um Mehrsprachigkeit, mehr sprachliche Tiefe für das fachliche Verständnis der Schüler:innen eingesetzt werden kann als in einem normalen Unterricht.
In allen drei Unterrichtsvarianten zeigt sich aktuell, dass die Schüler:innen gut dabei sind und mitmachen. „Es ist uns offensichtlich gelungen, einen aktivierenden Unterricht zu entwickeln.“, erzählt Brandt. Die Lehrkräfte, die die Schüler:innen sonst, außerhalb des Projektes, unterrichten, seien auch hochinteressiert dabei – sie sitzen mit in den Klassen – und zeigen Interesse an den Materialien und der Unterrichtsform.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung zu sprachexpliziten bzw. sprachsensiblen Unterricht sind einerseits für die Forschungscommunity relevant, da hierzu bisher noch keine Wirksamkeitsuntersuchungen angestellt wurden. Andererseits sollen der entwickelte Unterricht, die Skripte, die Präsentationen etc. direkt für die Unterrichtspraxis zur Verfügung gestellt werden, sodass Lehrkräfte damit arbeiten können. Später sollen Ergebnisse auch in möglichst praxisnahen Zeitschriften veröffentlich werden.
Die beiden Wissenschaftler:innen machen deutlich, welche Relevanz die Forschung zu sprachexplizitem Unterricht hat. In vielen Bildungsplänen ist schon lange von sprachförderlichem Unterricht die Rede, die empirische Grundlage für dieses Unterrichtsvorgehen fehle allerdings teilweise noch – eine große Motivation für die beiden Forschenden, hier ein wissenschaftliches Fundament beitragen zu können und auch zu zeigen, wie ein sprachexpliziter, funktionierender Unterricht aussehen kann.
Für einige Lehrkräfte klingt der sprachförderliche, sprachexplizite Unterricht nach einer Aufgabe, die noch „on top“ für sie hinzukommt. Hierzu betont Höttecke, dass Lehrkräfte in gewisser Weise immer schon, mehr oder weniger gut, sprachexplizit unterrichten. Es gehe also nicht um eine weitere neue Aufgabe für Lehrende, sondern um einen Beitrag zum fachlichen Lernen. Sprachliches und fachliches Lernen können als zwei Seiten einer Medaille gesehen werden.
Zur Frage der persönlichen Motivation für dieses Forschungsthema spricht Prof. Dr. Höttecke von seinem Studium, in dem er neben Physik auch Deutsch studierte. Daher interessiere er sich schon seit einer ganzen Weile für den Zusammenhang von fachlichem Lernen in Physik und den sprachlichen Anteilen daran. „Das hat mich immer fasziniert, dieser Zusammenhang aus Sprache, Denken, Lernen, Fachlichkeit.“, erzählt Höttecke.
Dr. Brandt beschäftigte sich schon in ihrem ersten Projekt an der Uni Hamburg mit dem Thema Sprache im Fach, hier in den Fächern Mathematik und Gesellschaftswissenschaften. Was sie ursprünglich und immer noch umtreibt ist die Tatsache, dass Schüler:innen aus bildungsfernen Familien und Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Deutschland immer noch viel schlechtere Bildungserfolgschancen haben als andere. Um das Jahr 2000 herum gab es den „PISA-Schock“ und es hat sich im Großen und Ganzen nichts geändert, beschreibt Brandt. Die Stellschraube ist, aus ihrer Sicht der Unterricht, der sich ändern muss, da die Kinder so sind wie sie sind - der Unterricht muss sich darauf einstellen. Gerade wenn gesagt wird, dass sprachliche Fähigkeiten einer der wichtigsten Schlüssel zu Bildungserfolg sind, liege natürlich nahe zu sagen, dass sprachliche Fähigkeiten in allen Fächern und jahrgangsübergreifend durchgehend gefördert werden, sagt Höttecke. Genau das werde in Hamburg auch vertreten und diese Aufgabe wird hier nicht allein auf die Sprachfächer abgeschoben, sondern auch in den Sachfächern wahrgenommen, wo sie sich ganz anders gestaltet als beispielsweise im Deutschunterricht.
Zu Stolpersteinen im Forschungsprojekt erzählt Brandt, dass es durchaus eine Aufgabe war, den gesamten Prozess aus Pre-Test, Unterricht und Post-Testung, der acht Wochen umfasste, in eine zusammenhängende Schulzeit, ohne Ferien oder andere Veranstaltungen einzugliedern, in der möglichst alle Schüler:innen präsent waren. Daraus resultierte die Erkenntnis, dass ein tauglicher, guter Unterricht jedoch Unterbrechungen wegen Ferien, Ausfall o.Ä., also die tatsächliche Schulrealität, aushalten können sollte. Höttecke spricht insgesamt von einer logistischen Herausforderung, sechs Schulen, sieben Unterrichtende, etwa 700 Schüler:innen, die möglichst acht Wochen am Stück unterrichtet werden sollen, miteinander zu koordinieren. Auch die Suche nach Studierenden, die den Unterricht machen wollten, war gar nicht so einfach: Es sollten Physikstudierende sein, die bereits etwas Unterrichtserfahrung hatten und gleichzeitig noch nicht in einer Schule als Lehrende beschäftigt waren. Die gefundenen Studierenden seien nun allerdings klasse: „Ein kleines, aber tolles Team.“.
Dr. Hanne Brandt berichtet zum Ende von einem besonderen Moment während des Projektes: In einer eigenen Unterrichtsbeobachtung einer Klasse mit einigen Schüler:innen mit Fluchthintergrund, bemerkte sie, wie gut die Schüler:innen inhaltlich dabei waren, ihnen aber noch einige Worte fehlten, um etwas auszudrücken. Es war eine der Kontrollgruppen und sie fragte sich emotional berührt: „Wie kann man eigentlich Schüler:innen nicht sprachexpliziten Unterricht anbieten?“. Auch der unterrichtende Lehrer sah den deutlichen Bedarf dieser Unterrichtform für die Schüler:innen.
Prof. Dr. Dietmar Höttecke beschreibt als besonders tolle Erfahrung zu sehen, dass die sprachlichen Hilfsmittel, die zum Teil im Klassenraum hängen und um die sich im Vorfeld während der Unterrichtsplanung sehr viele Gedanken gemacht wurden, von den Schüler:innen sehr gut angenommen wurden und während des Unterrichts genutzt. Gerade zu sehen, dass manches, was ins Ungewisse hinein geplant und angenommen wurde, tatsächlich funktioniert sei besonders schön.
Beide Wissenschaftler:innen sehen schon während ihrer Beobachtungen einen Effekt für die Schüler:innen und hoffen nun darauf, dass dieser mit ihren Messinstrumenten auch sichtbar wird. „Wir sehen, dass da etwas passiert, und das bestätigt uns in unserem Tun“, schließt Hanne Brandt.
Outro:
Dies war eine Folge vom Bildungsschnack. Jeden Monat wird hier ein Forschungsprojekt der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg vorgestellt – wenn Sie wissen wollen, zu welchen Themen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an unserer Fakultät forschen, wie genau sie das eigentlich machen und welche Relevanz das für Bildung und Gesellschaft hat, dann abonnieren Sie uns bei Spotify oder iTunes oder besuchen uns auf der Seite des Bildungsschnacks.
Danke für’s Zuhören, Tschüss und bis zum nächsten Mal!