AUFMERKSAMKEITWER braucht WAS um konzentriert lernen zu können?
24. Januar 2023, von Katrin Steinvoord
Foto: @Bildungsschnack
„Man kann den Unterricht noch so gut vorbereiten, aber, wenn man keine Aufmerksamkeit bekommt, ist alles für die Katz“, Prof. Dr. André Zimpel. Die Messung des Aufmerksamkeitsspektrums bei Neurodiversität und die Unterschiede zu neurotypischen Personen steht bei dieser Forschung im Mittelpunkt. Man bekommt einen Eindruck, welche Hilfen die inklusive Beschulung von neurodivergenten Personen benötigt.
Weiterführende Informationen
Prof. Dr. André Zimpel arbeitet zu den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und Autismus im Arbeitsbereich Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung: Lernen und Entwicklung.
Schriftliche Zusammenfassung (barrierefrei)
Zusammenfassung des Podcast Bildungsschnack im Januar 2023: Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung des Gespräches und darf ausschließlich nach Abstimmung mit der Urheberin (Fakultät für Erziehungswissenschaft, UHH) weiterverwendet werden.
AUFMERKSAMKEIT
WER braucht WAS um konzentriert lernen zu können?
Schlagworte: Aufmerksamkeitsspektrum, Neurodiversität, Lernmaterialien
Moderation: Dr. Katrin Steinvoord
Intro
Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcast Bildungsschnack. Wie jeden Monat wollen wir auch heute ein spannendes Forschungsprojekt aus der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg unter die Lupe nehmen.
In der dieser Folge habe ich Prof. Dr. André Zimpel zu Gast (sinngemäße Zusammenfassung des Gesprächs):
Aufmerksamkeit und Neurodiversität
Prof. Dr. André Zimpel arbeitet im Fachbereich „Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung: Lernen und Entwicklung“ und beschäftigt sich vor allem mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. „Man kann den Unterricht noch so gut vorbereiten, aber, wenn man keine Aufmerksamkeit bekommt ist alles für die Katz“, Prof. Dr. André Zimpel. Dieser Satz zeigt, dass es bei der Forschung von Herrn Zimpel um die Aufmerksamkeit, bzw. das Aufmerksamkeitsspektrum geht. Dabei interessiert die Forschergruppe vor allem die Aufmerksamkeit bei Neurodiversität. Neurodiversität bezeichnet dabei neurologische Dispositionen, die anerkannt und respektiert werden sollten. Diversität bezieht sich dabei auf viele Dinge. Wie komplex die Neurodiversität ist, zeigt Prof. Dr. André Zimpel an einem Beispiel: „Es gibt im menschlichen Körper fünf Gene, die unsere Hautfarbe, Augenfarbe, Haarfarbe und so weiter bestimmen. Es gibt 1.000 Gene, die das Längenwachstum unseres Körpers und ganze 10.000 Gene, die die Entwicklung des zentralen Nervensystems beeinflussen. Das zentrale Nervensystem ist dabei ein Organ von der Größe von anderthalb Stück Butter, in denen sich ca. 86 Milliarden Nervenzellen befinden. Und jede einzelne Nervenzelle wiederum ist ungefähr so kompliziert, wie eine Stadt und geht 1.000-10.000 Verbindungen zu Nachbarzellen ein. Das sind im Durchschnitt 5.500. Wenn man das mit 86 Milliarden multipliziert, kommt man im menschlichen Organismus (zentralen Nervensystem) auf 473 Billionen Nervenverbindungen. Und wenn man sich einen Kubikmillimeter des Gehirns anschaut, könnte man circa so viele Nervenverbindungen finden, wie Sterne in der Milchstraße sind.“ Bei Beachtung dieser Diversitätsmöglichkeiten, ist die Forschung zu Aufmerksamkeit in diesem Spektrum noch ganz am Anfang. Bekannt sind einige Syndrome: Autismusspektrum, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Trisomie 21 usw. Bei diesen beschriebenen Syndromen untersucht Prof. Dr. André Zimpel nun welchen Einfluss die Neurodiversität auf die Aufmerksamkeit hat. Denn, und da kommen wir wieder zurück zum Eingangszitat, Aufmerksamkeit ist das, womit die Lehrer:innen arbeiten. Schüler:innen, die dem Unterricht keine Aufmerksamkeit schenken können, auch wenn sie es wollten, profitieren dann von Unterricht nicht.
Messen von Aufmerksamkeit
In seiner (Grundlagen-)Forschung misst Prof. Dr. André Zimpel den Aufmerksamkeitsumfang, um zu schauen, welche Auswirkungen dies auf das Lernen hat. Gemessen wird dies, in dem geschaut wird, wie viele Dinge man in 200 Millisekunden simultan erfassen kann. Anders gesagt, wie viele Dinge kann man gleichzeitig erkennen. Oder, wie lange (Millisekunden) muss etwas präsentiert werden, damit es vom Gehirn erkannt wird. Und es geht auch darum, ob Menschen eher sprachliche, bildliche Informationen oder auch Muster gut verarbeiten können. Wir haben also drei Denkweisen, in denen wir denken können, und alle haben Vor- und Nachteile.
Zur Messung des Aufmerksamkeitsumfangs wird ein Compitertachistoskop genutzt. Das Tachistoskop wurde schon im 19. Jahrhundert verwendet. Dabei fiel eine Art Guillotine herunter und man konnte das Bild nur Bruchteile von einer Sekunde sehen. Abgefragt wurde dann, wie viel erkannt wurde. Durch Computerbildschirme kann dies heute viel exakter gesteuert werden und dadurch sind die Ergebnisse viel präziser. Untersucht werden dann Personen, mit unterschiedlichen Syndromen: Wie viele Dinge können diese im Bruchteil einer Sekunde wahrnehmen/erkennen. Für neurotypische Personen (= kein neurologisches Syndrom) gibt es die Zahl vier, welche sich als die Anzahl an z. B. Strichen oder Buchstaben herausgestellt hat, die man simultan erkennen kann. Der Mensch kann dabei beispielsweise vier Blätter wahrnehmen, aber auch vier Bäume. Daher ist es für den Menschen unumgänglich zu abstrahieren, da sonst das Aufmerksamkeitsspektrum hoffnungslos überladen wäre.
Neurotypisch und Neurodivergent
Als Definition von neurodivergenten Personen beschreibt Prof. Dr. André Zimpel diese als „anders, aber vollkommen richtig im Kopf“. Die ganze Kultur die uns umgibt, ist mit Chunks (=Brocken, zum Beispiel vier Striche sind ein Chunk) aufgeteilt, die für neurotypische Personen ideal sind. Die kompliziertesten Buchstaben in unserem Alphabet bestehen aus (nicht mehr als) vier Strichen: E oder W. Alle anderen Buchstaben haben weniger als vier Striche: D, ein Strich und ein Bogenstrich. Die Schriftsprache ist für neurotypische optimiert. Man kann demnach auch zeigen, dass die Silbenlänge nie mehr als vier Buchstaben und ein Wort in den seltensten Fällen mehr als vier Silben beinhaltet. Menschen im Neurodiversitätsspektum, beispielsweise im Autismusspektrum oder mit Trisomie 21, haben einen anderen Aufmerksamkeitsumfang und dadurch einen erschwerten Zugang zu unserer gesamten Kultur. Entweder sie nehmen zu viele Chuncks wahr. Dann sehen sie Unterschiede, die für Neurotypische irrelevant sind. Das Autismusspektrum kann sich dann in einer Hypersensitivität für Details zeigen. Ein Beispiel: Wenn eine neurotypische Person Auto zwei Mal sagt (man kann das Wort nie ganz genau gleich aussprechen), dann kann es sich für ein Kind im Autismusspektrum so anhören, als würde die Person zwei unterschiedliche Wörter sagen. Dadurch haben sie einen schweren Zugang zur Lautsprache. Ein anderes Beispiel: Menschen mit Trisomie 21 erkennen nur zwei Chunks gleichzeitig. Dadurch nehmen sie oft nur das Ende von Wörtern wahr. Wenn sie also aufgefordert werden, das Wort „Uni-ver-si-tät“ nachzusprechen, würden sie mit „si-tät“ antworten. Dies kann im Alltag dann zu Missverständnissen führen. Wenn man immer nur einen Teil der Worte mitbekommt, kann man sich vorstellen, dass es schwer ist, in der Welt zurecht zu kommen.
Inklusion und Lernmaterialien
Bei der inklusiven Beschulung können diese unterschiedlichen Wahrnehmungsspektren dann zu enormen Schwierigkeiten führen. Daher konstruieren Prof. Dr. André Zimpel und seine Kolleg:innen besondere Lernmaterialien für diese Gruppen. Diese können dann neurodiversen Kindern helfen, dem Unterricht genauso zu folgen, wie dies neurotypische Kinder tun können. Auch in der Frühförderung und im Vorschulbereich ist es wichtig, die Eltern und Erzieherinnen zu sensibilisieren. Aber auch beispielsweise in der Berufsausbildung hat das Aufmerksamkeitsspektrum einen Einfluss. Die Neurodivergenz und ihre Auswirkungen haben daher während der gesamten Biografie einen Einfluss.
Für die Schulzeit wurde Beispielsweise eine preisgekrönte App entwickelt, die Mathilda-App. Diese unterstützt Schüler:innen mit Trisomie 21 beim Mathelernen. Die App kann dynamisch an die Bedürfnisse des jeweiligen Kindes angepasst werden, sodass sie einen Zugang zu Mengen bekommen. Neurotypische Kinder lernen Mengen meist mit der „Kraft der 5“. Die 5 ist dabei die Menge, die als erste verschwimmt, da sie ja ein Aufmerksamkeitsspektrum von vier gut wahrnehmen können. Wenn die Kinder also nicht mehr Zählen, sondern eine mentale Repräsentation der Menge 5 im Kopf haben, dann haben sie eine wichtige Stufe in der Entwicklung gemeistert. Dies schaffen Schüler:innen mit Trisomie 21 nie, weil diese schon bei 3 diese Probleme haben. Diese App ist daher genau auf diese Kinder abgestimmt und es konnte festgestellt werden, dass sie mentale Mengenvorstellungen ausbilden können, ohne zu zählen. Dies war ein großer Fortschritt. Dabei kann in der App die kognitive Entwicklungsstufe angepasst werden und ist also ein „barrierefreier Zugang für Menschen, für die die „Kraft der 5“ kraftlos ist“, Prof. Dr. André Zimpel. Am anderen Ende des Spektrums geht es bei Kindern, die sehr viele Chunks wahrnehmen vor allem darum, die Abstraktion zu fördern, mit großen Mengen zu arbeiten und die Motivation zu fördern. Man kann es sich so vorstellen, dass diese Personen viele Bäume sehen, aber keinen Wald, da sie zu viele Details an den Bäumen wahrnehmen. Die Details verwischen zu lassen, ist also eine Hilfe, die Menschen im Autismusspektrum helfen kann.
Persönliche Motivation
Prof. Dr. André Zimpel hat als Kind erlebt, was mit der Wahrnehmung eines Menschen passiert, wenn dieser erblindet – seinem Vater widerfuhr dies in frühen Jahren. Das Miterleben dieser Situation hat Herrn Zimpel als Kind nachhaltig beeindruckt.
Zum anderen hat Herr Prof. Dr. André Zimpel selbst eine Synästhesie. Für ihn hat jede Zahl oder jeder Buchstabe eine Farbe. Jeder Akkord den und jedes Tonintervall das er hört, hat für ihn einen anderen Geschmack. Synästhesie bedeutet, dass viele Abstraktionen mit bestimmten Empfindungen verbunden sind. Diese Form der Neurodivergenz hat ihn daher aufmerksam werden lassen, auch zu anderen Formen dieser zu forschen.
(Nicht-)Anerkennung der Forschung
Prof. Dr. André Zimpel nennt die Nicht-Anerkennung seiner Forschung, als großes Übel, dem er immer wieder begegnet. Es ist sehr schwer, über Aufmerksamkeit zu forschen. Dass die menschliche Aufmerksamkeit begrenzt ist, ist ein Fakt, der sehr schwer zu vermitteln und darzustellen ist. Daher verwendet Herr Zimpel sehr viel Zeit darauf Menschen zu erklären, worum es bei der Forschung überhaupt geht.
Die hauptsächliche Schwierigkeit ist jedoch, dass die Arbeit mit den betroffenen Menschen, z. B. mit Trisomie 21 viel schlechter finanziert wird, als zum Beispiel die Forschung, wie man die Geburt dieser Kinder verhindern kann. „Es gibt viel mehr Gelder für die Pränataldiagnostik, als für die Forschung zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen“, so Prof. Dr. André Zimpel. Für seine Forschung zu werben und immer wieder darstellen zu müssen, dass dies auch sinnhaft ist, ist eine immer wiederkehrende Anstrengung, die betrieben werden muss.
Besondere Momente
Ein Besonderer Moment war für Prof. Dr. André Zimpel, dass in Seattle ein „Brain-Atlas“ im Internet veröffentlicht wurde. Hier kann man genau verfolgen, wo im Gehirn eine bestimmte Genexpression stattfindet. Ein Beispiel: Bei Trisomie 21 ist das Chromosom 21 dreifach vorhanden. In dem Atlas kann nun geschaut werden, welche Gene wirken sich denn überhaupt im Gehirn aus, also welche Veränderungen werden durch die Veränderung des Chromosoms 21 im Gehirn veranlasst. Diese Veränderungen im Gehirn, durch die visuelle Darstellung im „Brain-Atlas“, haben Herrn Prof. Dr. André Zimpel erst auf die Idee gebracht, sich den Aufmerksamkeitsumfang anzuschauen. Man kann beispielsweise zeigen, dass bei Trisomie 21, viele Areale des Gehirns überhaupt nicht beeinflusst werden, sondern dass es sehr kleine Gebiete im Gehirn sind, auf die sich die Forschung konzentrieren muss.
Als ein weiteres Highlight während seiner Forscherkarriere beschreibt Prof. Dr. André Zimpel die Testung der 1.000sten Person mit Trisomie 21 durchgeführt zu haben. Eine so große Menge an Testungen schien zunächst unvorstellbar.
Außerdem beschreibt Prof. Dr. André Zimpel es als ein besonderes Erlebnis, dass mittlerweile Menschen mit Trisomie 21, von denen man bei der Geburt davon ausging, dass sie geistig behindert sind, nun Universitätsabschlüsse schaffen. Die Forschung und Förderung dieser Personengruppe hat also Erfolg gehabt.
Outro
Dies war eine Folge vom Bildungsschnack. Jeden Monat wird hier ein Forschungsprojekt der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg vorgestellt – wenn Sie wissen wollen, zu welchen Themen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an unserer Fakultät forschen, wie genau sie das eigentlich machen und welche Relevanz das für Bildung und Gesellschaft hat, dann abonnieren Sie uns bei Spotify oder iTunes oder besuchen uns auf der Seite des Bildungsschnacks.