Juli: Wie (ver)lernen Erwachsene Lesen und Schreiben?Forschungsprojekt „GeLiNu“ zur Veränderbarkeit von Literalität
27. Juli 2020, von Bente Gießelmann
Foto: UHH
Das Projekt "Geringe Literalität und Numeralität (GeLiNu)" erforscht die Veränderbarkeit von literalen Kompetenzen im Erwachsenenalter. „Funktionaler Analphabetismus“ war lange das Stichwort in der gesellschaftlichen Diskussion, doch in der Forschung und Praxis wird mittlerweile mit dem Konzept „geringe Literalität“ gearbeitet – es ist präziser und weniger stigmatisierend.
„Literalität“ bezeichnet Lese- und Schreibfähigkeiten und deren Anwendung im Alltag. Nehmen wir das Bespiel Wohnungssuche: nicht nur für das Heraussuchen, Auswählen und Verstehen von geeigneten Annoncen ist das Lesen wichtig, sondern auch für die Wohnungsbewerbung und die Kommunikation mit dem/der Vermieter*in. Literalität spielt im gesamten Lebensverlauf eine zentrale Rolle für die Bewältigung alltäglicher Herausforderungen, denn sämtliche Lebensbereiche umfassen literale bzw. schriftbezogene Praktiken.
Geringe Literalität bedeutet, dass eine Person maximal bis zur Ebene einfacher Sätze lesen und schreiben kann. Das Lesen und Schreiben auf der Textebene wird nicht beherrscht. Das betrifft zum Beispiel Verträge, Gesundheitsinformationen oder Romane. Mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten stehen Erwachsene vor der Herausforderung, alltägliche Anforderungen mit großen Unsicherheiten bewältigen zu können. Insbesondere das kritische Hinterfragen schriftlicher Informationen erzeugt besondere Schwierigkeiten.
Diesem Phänomen gehen wir im GeLiNu-Projekt näher auf den Grund. Wir stellen zwei zentrale Fragen: Wie stabil oder veränderbar ist geringe Literalität im Erwachsenenalter? Und welche Risiko- und Schutzfaktoren begünstigen oder verhindern, dass Erwachsene geringe literale Fähigkeiten entwickeln?
In einem kurzen Video geben wir (Prof. Dr. Anke Grotlüschen und Luise Krejcik) Einblick in unsere Forschungsdaten und zeigen, wie man an „Spaghetti-Grafiken“ die Veränderung von Kompetenzen ablesen kann.
Wie ist das Projekt entstanden?
GeLiNu ist ein Kooperationsprojekt und analysiert die Daten, die im Rahmen des Nationalen Bildungspanels (NEPS) als Längsschnittstudie zu Bildungsprozessen Erwachsener regelmäßig erhoben werden. Das Hamburger Team bearbeitet insbesondere die Aufgabe, den bisherigen Forschungsstand zu Literalität systematisch zu erschließen und zusammenzufassen, welche Faktoren für geringe Literalität in den bisherigen (internationalen) Studien als wichtig eingeordnet wurden.
Unsere zweite Aufgabe war, eine Grenze zu definieren, ab der geringe Literalität beginnt. Mit dieser Definition können wir dann große Datensätze über Kompetenzen von Erwachsenen so analysieren, dass wir sagen können: So viele Personen, und zwar diese Personen, erreichen die Ebene einfacher Sätze und besitzen geringe Lese- und Schreibfähigkeiten. Unser dritter Hamburger Schwerpunkt ist es, die Ergebnisse durch Veröffentlichungen und Vorträge auch der Praxis sowie Entscheidungsträger*innen zugänglich zu machen. Unsere Kooperationspartnerinnen/-partner aus Bamberg und Mannheim sind in der Datenbereitstellung und Datenanalyse tätig.
Wie verändert sich geringe Literalität im Erwachsenenalter?
In unserer Untersuchung ist ein Drittel der Erwachsenen mit geringer Literalität nach 6 Jahren auf ein höheres Literalitätsniveau gestiegen. Weniger als 1 % der untersuchten Personen steigen nach 6 Jahren in den Bereich der geringen Literalität ab. Geringe Literalität ist also keine unabänderliche Diagnose, sondern hat das Potenzial, sich im Laufe des Lebens zu verändern. Die Analysen unserer Kooperationspartnerinnen/-partner aus Bamberg und Mannheim zeigen, dass innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums (von bis zu 6 Jahren) im Erwachsenenalter sowohl ein Aufstieg von geringer Literalität zu höherer Literalität – als auch ein Abstieg in geringe Literalität möglich ist. Während des Beobachtungszeitraums waren Kompetenzgewinne deutlich häufiger als Kompetenzverluste.
Was begünstigt oder verhindert geringe Literalität?
Wir können in dieser Art von Forschung keine Vorhersagen machen, sondern nur zeigen, welche Einflüsse die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass im Verlauf des Erwachsenenalters Lese- und Schreibfähigkeiten erweitert oder abgebaut werden.
Aus unseren Analysen ergeben sich drei Schlüsselergebnisse:
(1) Häufige literale Praktiken, also viel Lesen und Schreiben im Alltag, erhöhen das Kompetenzniveau und sind damit ein Schutzfaktor. Wir messen das anhand einer sogenannten „Indikatorvariable“, nämlich der Anzahl von Büchern im Haushalt.
(2) Soziodemographische Faktoren, wie niedrige Schulbildung, Langzeitarbeitslosigkeit und eine andere Erstsprache als Deutsch, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Verluste in der Literalität.
(3) Unsere Analysen zeigen, dass mit zunehmendem Alter Kompetenzverluste einhergehen, die auf eine Abnahme kognitiver Fähigkeiten zurückgeführt werden können.
Überraschend für uns ist, dass wir die seltener gefundenen Abstiege in geringe Literalität mit unseren Ergebnissen besser erklären können als die deutlich häufigeren Aufstiege von geringer zu hoher Literalität.
Was bleibt offen?
Für die weitere Forschung interessiert uns besonders, wie sich Kompetenzen von Erwachsenen langfristig – innerhalb von 10 bis 20 Jahren – verändern. Wir wollen auch wissen, welche weiteren bisher nicht analysierten Faktoren wichtig sind für geringe Lese- und Schreibfähigkeiten. Hier ist etwa der Einfluss von Weiterbildungsteilnahmen und von Änderungen in der familiären Situation (neue Partnerschaft oder Elternschaft) interessant.
Auch andere Kompetenzbereiche sind für die Alltagsbewältigung von Erwachsenen relevant, zentral ist vor allem auch „Numeralität“. Das bezeichnet die Fähigkeit, zum Beispiel mit Mengen, Größen, Zeit- und Geldeinheiten umzugehen und Statistiken kritisch zu verstehen. Auch für Numeralität fragen wir, wie sie sich verändert und was die Veränderung erklärt.
Die meisten soziodemographischen Merkmale und der altersbedingte Rückgang der kognitiven Fähigkeiten im Erwachsenenalter sind nur schwer zu ändern. Daher sollten sich politische Maßnahmen auf schriftsprachliche Aktivitäten als vielversprechende Mittel zur Bewältigung geringer Literalität im Erwachsenenalter konzentrieren. Unsere Forschung zu Schutz- und Risikofaktoren ist eine Grundlage dafür, dass sinnvolle Strategien in der Erwachsenenbildung und gezielte Bildungsangebote für Erwachsene erarbeitet werden können, um allen Erwachsenen die Teilhabe an unserer sehr schriftsprachlich geprägten Gesellschaft zu ermöglichen.
Das Projekt „GeLiNu“ wird in Kooperation von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg (Prof. Dr. Anke Grotlüschen und Luise Krejcik), dem Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg GESIS (Prof. Dr. Cordula Artelt) und dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim LIfBi (Prof. Dr. Beatrice Rammstedt) durchgeführt. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie auf der Webseite.
Einen aktuellen Artikel zur Branchenverteilung gering literalisierter Erwachsener sowie dem GeLiNu-Projekt finden Sie in der WELT.
Auch die Sendung "Planet Wissen" (ARD, 18.6.2020) thematisiert geringe Literalität und hat den Forscher Klaus Buddeberg (ebenfalls Fakultät für Erziehungswissenschaft Universität Hamburg) zum Interview eingeladen.