Juni: Die Rolle von Bildung für MigrationForschung zu brasilianischen Migrant*innen in Deutschland
23. Juni 2020, von Bente Gießelmann
Foto: UHH/EW
Wie beeinflussen Bildungswünsche für die eigene Zukunft oder die der Kinder Migrationsentscheidungen? Welche Rolle spielt Bildung innerhalb der Motivation zur Migration von Brasilien nach Deutschland? Wie gestalten Migrant*innen sowohl die Migration als auch ihren Bildungsweg? Diese Fragen erforscht das Team des Forschungsprojektes "Transnational families: gender and education" (Dr. Magali Alloatti, Dr. Javier Carnicer, Helena Dedecek Gertz) aus dem Arbeitsbereich "Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" (Prof. Dr. Sara Fürstenau).
Zwei Biographien von Forschungspartner*innen geben Einblick in die Lebensgeschichten von brasilianischen Migrant*innen.
Sie können die Vorstellung des Projektes in einem kurzen Podcast (oben) anhören oder hier weiterlesen.
Ronaldo* war 14 Jahre alt, als er von Brasilien nach Deutschland kam. Er erzählt von großen Schwierigkeiten in der Schule in Brasilien. Ein Schulwechsel hatte nicht geholfen. Sein Vater, der seit vielen Jahren in Deutschland lebte, kam auf die Idee, die neue Umgebung und insbesondere die Schule in Deutschland könnten seinem Sohn helfen. So kam Ronaldo nach Deutschland, wo er in der Schule den Hauptschulabschluss erreichte und im Anschluss eine Ausbildung absolvierte. Auch für Erwachsene ist die Migration meist eine familiäre Angelegenheit. Ronaldos Vater hat etliche Schwestern und Cousinen, die ebenfalls in Deutschland leben. Viele kamen, um sich gegenseitig zu helfen, z. B. bei der zweisprachigen Kindererziehung. Manche kamen, um in Deutschland neue Bildungswege zu suchen, auch im Anschluss an einen Schulabschluss in Brasilien.
Bei den Stichwörtern „Migration“ und „Bildung“ denkt man vor allem an Auswirkungen von Migration auf den Bildungsbereich. Eine typische Frage wäre: Wie gehen Bildungsinstitutionen mit Kindern und Jugendlichen um, die selbst oder deren Eltern migriert sind? Hier geht es um die Folgen der Migration für die Bildung. Im Projekt „Transnational families, Gender and Education“ haben die Wissenschaftler*innen die Perspektive umgedreht.
Wir fragen, wie sich Bildung auf Migration auswirkt. Genauer gesagt erforschen wir, wie Bildungswünsche für die eigene Zukunft oder die der Kinder Migrationsentscheidungen beeinflussen. Welche Rolle spielt Bildung innerhalb der Motivation zur Migration von Brasilien nach Deutschland? Wie gestalten Migrant*innen sowohl die Migration als auch ihren Bildungsweg? Wie werden Bildungslaufbahnen und Migrationsverläufe durch familiäre und soziale Netzwerke, Bildungsinstitutionen und soziopolitische Systeme zwischen Brasilien und Deutschland beeinflusst?
Ronaldo ist ein gutes Beispiel dafür, wie eng Migrationsentscheidungen mit Bildungsplanung und Familienorganisation zusammenhängen. Die Bedingungen der Migration aus Brasilien sind sehr vielfältig. Nach Europa kommen ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter ebenso wie Personal für hoch dotierte Stellen. Vielfältig und meist schwer voneinander zu trennen sind auch die Motive der Auswanderung. Arbeit, Heirat, Familienzusammenführung und eben auch Bildung können für ein und dieselbe Person gleichzeitig wichtige Gründe darstellen. Mit unserer Forschung möchten wir Einblicke bekommen, wie unterschiedliche soziale Gruppen in der Migration interagieren, aber auch, wie sich Bildungswege, Migrationsverläufe und die darunterliegenden Motivationen je nach sozialem Hintergrund unterscheiden.
Luciana* kommt aus einer Favela in einer brasilianischen Großstadt. Sie schloss die Sekundarschule mit guten Noten ab, aber ein Studium konnte sie sich finanziell nicht leisten. Über eine Bekannte hörte sie von einer brasilianischen Familie in Deutschland, die ein Au-Pair-Mädchen aus ihrem Heimatland suchte. Für Luciana war das ein Weg, in Deutschland die Sprache zu lernen und nach Studienmöglichkeiten zu suchen. Um nach einem Jahr als Au-pair weiter in Deutschland bleiben und Deutsch lernen zu können, begann sie ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einem Altenheim – obwohl sie eigentlich Medizin studieren wollte. Ein paar Jahre später wurde ihr in dem Altenheim ein Ausbildungsplatz angeboten. Inzwischen ist Luciana zertifizierte Altenpflegerin mit gesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Den Wunsch, irgendwann ein Studium zu beginnen, hat sie noch nicht aufgegeben.
Fälle wie Luciana und Ronaldo zeigen, dass Bildungswünsche und -pläne ein Auslöser für Migration sein können. Das gilt nicht nur für gut situierte Familien, die ihren Kindern ein Studium im Ausland finanzieren können. Bildungsorientierungen beeinflussen auch die Migrationsentscheidungen in Familien mit weniger ökonomischen Ressourcen. In der öffentlichen Debatte über Migration wird oft zwischen der „internationalen Mobilität“ von Studierenden und höher Qualifizierten auf der einen Seite und der „Arbeitsmigration“ auf der anderen Seite unterschieden.
Wir können zeigen, dass diese Trennung in der Realität oft nicht stimmt: Manche derjenigen, die gemeinhin als „Arbeitsmigrant*innen“ wahrgenommen werden, migrieren nicht in erster Linie auf der Suche nach Arbeitsbedingungen, sondern vor allem auf der Suche nach Bildungsmöglichkeiten. Luciana ist ein gutes Beispiel dafür. In einer vorangegangenen Studie haben wir untersucht, wie sie und andere junge Migrantinnen durch ihre Arbeit in der Pflege versuchen, aktiv und langfristig ihre Bildungswünsche umzusetzen. Neben ihrer Arbeit betreiben sie viel Aufwand um die Sprache zu lernen, eine Berufsausbildung zu absolvieren oder sich auf ein Studium vorzubereiten. Solche Fälle zeigen, dass eine Unterscheidung zwischen „Arbeitsmigration“ und „Bildungsmobilität“ nicht zu der Lebenswirklichkeit von transnational mobilen Menschen passt. Übrigens spielt Bildung in Lucianas Fall eine doppelte Rolle. Luciana selbst kam auf der Suche nach Bildungschancen nach Deutschland. Und der Familie, die sie als Au-Pair einstellte, ging es um die sprachliche Bildung ihrer Kinder, denn sie suchten eine Person, die mit den Kindern Portugiesisch sprechen konnte.
Die Nachfrage nach Au-pairs und nach Arbeitskräften in der Pflege eröffnet eine Nische, die Migrantinnen wie Luciana auf ihrer Suche nach Bildungsmöglichkeiten nutzen. Diese Nische existiert vor allem für Frauen, weil Pflegearbeit immer noch eine weibliche Domäne ist. Schätzungen zufolge liegt der Frauenanteil bei der Migration von Brasilien nach Deutschland bei 75 Prozent. Die Kategorie Gender ist deshalb ein Schwerpunkt im Forschungsprojekt. Wir fragen danach, ob es neben Pflege- und Haushaltsarbeit weitere geschlechtsspezifische Märkte gibt, die bildungsmotivierte Migration beeinflussen.
Das Projekt zu „Transnational Families, Gender and Education“ besteht aus zwei Studien, die in enger Zusammenarbeit durchgeführt werden: eine quantitative Fragebogenerhebung und eine Studie mit der digitalen Ethnografie.
In der quantitativen Fragebogen-Erhebung fragen wir Brasilianerinnen und Brasilianer in Deutschland nach der Motivation und den Verlauf ihrer Migration, nach ihren Bildungswünschen und -laufbahnen, sowie auch nach den familiären, sozialen, beruflichen und institutionellen Netzwerken, die für sie von Bedeutung sind. Eine wichtige Frage ist: Wie hängen Bildungschancen mit geschlechtsspezifischen Arbeitsmärkten (wie z.B. Pflege oder Bauwesen) und mit geschlechtsspezifischen sozialen Unterstützungsnetzwerken zusammen?
Mit der digitalen Ethnographie untersuchen wir, wie Migrations- und Bildungslaufbahnen durch virtuelle Kommunikation und durch die Verwendung diverser Medien beeinflusst und unterstützt werden. Soziale Medien wie Facebook sind in Brasilien sehr beliebt und auch in der Migration sehr präsent. Migrantinnen und Migranten vernetzen sich hier über spezifische Interessen wie beispielsweise Berufsgruppen oder Elternschaft. Wir fragen aber auch: Welche Vorstellungen von Bildung werden durch digitale Netzwerke transnational geteilt? Welchen Einfluss haben diese Konzepte auf Bildungs- und Migrationsstrategien?
Wir erforschen diese Fragen in einer internationalen und multidisziplinären Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus der Anthropologie und der Soziologie an der Universität von Santa Catarina in Brasilien. Normalerweise läuft in der Wissenschaft vieles auf Englisch, aber in dieser Arbeitsgruppe sprechen wir meistens Portugiesisch. Das ist ja auch die Sprache, in der wir unsere Forschung durchführen – auch wenn die Publikationen am Ende doch auf Englisch oder auf Deutsch vorliegen werden.
Weiterführende Informationen
Mehr zum Projekt auf Portugiesisch/more about the project in Portuguese: Famílias transnacionais: Gênero e Educação
Projektteam (Deutschland) - Universität Hamburg:
- Prof. Dr. Sara Fürstenau
- Dr. Javier Carnicer
- Helena Dedecek-Gertz
Projektteam (Brasilien) - Universidade do Estado de Santa Catarina (UDESC):
- Prof. Dr. Glaucia de Oliveira Assis
- Prof. Dr. Francisco Canella
- Prof. Dr. Silvia Arend
- Prof. Dr. Sueli Siqueira (Universidade Vale do Rio Doce)
- Dr. Magali Alloatti