April: Physiklehrkräfte korrigieren SchülertexteWie sich hinter dem einfachen Akt des Rotstift-Ansetzens ein komplexes Themenfeld zwischen Fach, Sprache und Bewertung verbirgt
28. April 2020, von Bente Gießelmann
Foto: UHH/Gießelmann
Diesen Monat stellen wir ein Forschungsprojekt aus der Physikdidaktik vor. Markus Feser forscht zu der Frage, wie genau Lehrkräfte Schülertexte korrigieren und welche Rolle dabei fachliche und sprachliche Aspekte spielen.
Doch zunächst müssen Sie selbst aktiv werden und sich einen Eindruck verschaffen:
Bitte korrigieren!
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind Physiklehrkraft und haben mit Ihrer Klasse in den letzten Wochen zum Thema „Akustik“ gearbeitet. In einer Klassenarbeit haben Sie nun das Wissen der Schüler*innen abgefragt.
Sie sitzen am Schreibtisch vor einem Stapel Klassenarbeiten und korrigieren die Antworten der Schüler*innen auf eine Textaufgabe. Die Textaufgabe lautete:
"Bei einem Weltraumspaziergang reißt zwischen zwei Astronauten die Funkverbindung ab. Obwohl der eine Astronaut aus Leibeskräften schreit, hört ihn sein Kamerad nicht. Der ältere Astronaut hält seinen in Panik geratenen Kollegen fest und presst seinen Helm an den des Kollegen. Plötzlich kann der jüngere den älteren leise hören. Erkläre beide Phänomene genau!"
Sie können für die Schülertexte A-D minimal 0 Punkte und maximal 5 Punkte vergeben. Nachdem Sie die Schülertexte bewertet haben, stellen wir das Forschungsprojekt von Markus Feser vor und zeigen, welche vielschichtigen Fragen sich hinter diesem anscheinend ganz einfachen Korrekturprozess verbergen.
Das Forschungsprojekt
Leistungsbeurteilung ist ein Thema, welches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht schon lange beforscht wird. Was bisher noch wenig im Fokus stand, ist die Alltagspraxis von Lehrkräften in der außerunterrichtlichen Arbeitszeit, in diesem Projekt konkret: wenn Physiklehrkräfte in einer Klassenarbeit Schülertexte beurteilen…
Wie gehen Lehrkräfte tatsächlich bei der Korrektur von Schülertexten vor? Welchen Logiken folgen sie, und welche Maßstäbe halten sie für angemessen? Wie treffen sie Entscheidungen, und welche Kriterien sind dabei explizit oder auch implizit wichtig?
Die bisherige Forschung lässt vermuten, dass der Sprachgebrauch und somit sprachliche Fähigkeiten von Schüler*innen stets mitbewertet werden. Wie genau dies in der Korrektur von Texten stattfindet, inwiefern fachliche und sprachliche Kriterien bei der Bewertung ineinanderfließen und inwiefern dadurch in der Beurteilung gegebenenfalls „Schieflagen“ entstehen, hat Markus Feser erforscht.
Wie erforscht man einen Korrekturprozess?
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Die vier Schülertexte, die Sie eben selber beurteilt haben, sind Kontrastfälle. Wie im Diagramm veranschaulicht lassen sie sich hinsichtlich ihrer fachlichen und ihrer sprachlichen Textqualität voneinander unterscheiden. Im ersten Teil der Forschung hat Markus Feser diese typischen Antworttexte aus über 100 originalen Schüler*innen-Texten ausgewählt. In der Studie wurden anschließend 21 Physiklehrer*innen – so wie Sie – gebeten, die vier Schülertexte in Form von Punkten zu beurteilen. Die Physiklehrkräfte haben vor dem Korrigieren ihre Erwartungen an die (richtige) Beantwortung der Textaufgabe formuliert. Anschließend wurden sie gebeten, laut denkend die vier Texte zu korrigieren und zu bewerten. Die „laute Korrektur“ ermöglicht, die unausgesprochenen Strategien und Maßstäbe mitzuerfassen. Nach der Korrektur wurden die Lehrkräfte nochmals zu den Texten sowie zu ihren Bewertungen befragt. In einem mehrschrittigen Analyseverfahren hat Markus Feser dieses Material (Gesamt-Punkte-Verteilung, Korrekturen, Laut-Denk-Sequenzen) qualitativ und quantitativ ausgewertet. |
Welche Ergebnisse der Forschung deuten sich an?
Physikunterricht ist kein Sprachunterricht. Dennoch ist Sprache sowohl Kommunikationsmittel als auch Lerngegenstand: Fachliches Wissen und Kompetenzen werden über Sprache vermittelt (und wiederum in Tests auch sprachlich, zum Beispiel über Textaufgaben, abgefragt). Im Physikunterricht geht es ebenso darum, einen Fachsprach-Gebrauch zu erlernen und zu verwenden. Physiklehrkräfte haben die Aufgabe, den Schüler*innen fachliche ebenso wie sprachliche Kompetenzen zu vermitteln. Oft spielt jedoch Sprache eine geringere Rolle im Physikunterricht in der Schule – in der Beurteilung von Schülerleistungen scheint sie jedoch eine größere Rolle als erwartet zu spielen.
In der Studie zeigt sich bisher:
Bei der Bewertung der fachlichen Leistungen der Schüler*innen orientierten sich die Lehrkräfte eher positiv an deren Fähigkeiten, wohingegen sie sich bei der Beurteilen sprachlicher Leistungen überwiegend an Defiziten orientierten. Wünschenswert wäre hingegen eine ausbalancierte Korrektur, d. h. dass Schüler*innen sowohl auf fachlicher wie auch auf sprachlicher Ebene Rückmeldung dazu erhalten, was sie bereits können und woran sie noch arbeiten müssen.
Bei der Beurteilung der Schülertexte werden fachliche und sprachliche Kriterien in der Praxis oft miteinander vermischt bzw. beeinflussen gegenseitig die Bewertung. Die Gefahr ist, dass Fehlurteile entstehen, indem richtige Inhalte als „falsch“ bewertet werden, weil in einer Antwort z.B. Fachwörter fehlen. Schüler*innen, die fachlich sehr gut sind, sich aber sprachlich nicht gut ausdrücken können, werden im Ergebnis schlechter beurteilt.
„Hier wäre es in der Praxis wichtig, dass Lehrkräfte, bevor sie eine Klassenarbeit korrigieren, ihre fachlichen und sprachlichen Bewertungsmaßstäbe konkretisieren und voneinander abgrenzen. Wenn Lehrkräfte dann hinsichtlich beider Ebenen korrigieren und den Schüler*innen Feedback geben können, hilft dies für den Lernerfolg: Die Lehrkräfte können so besser beurteilen, ob eine Förderung auf der fachlichen oder auf der fachsprachlichen Ebene notwendig ist; und dementsprechend können sie nach der Klassenarbeit besser planen, welche*r Schüler*in welche Art von Unterstützung braucht.“
Die Ergebnisse der Studie sind aufgrund der geringen Anzahl der befragten Lehrkräfte nicht repräsentativ, sie geben jedoch wichtige Hinweise auf mögliche Tendenzen und Effekte beim Korrigieren, die in einer umfassenderen Forschung genauer untersucht werden müssen.
Nachdenken über Fachunterricht, Sprache und Leistungsbeurteilung…
Es ist nicht leicht für Lehrkräfte, einen Erwartungshorizont zu formulieren, der es ermöglicht, die Stärken und Schwächen einzelner Schüler*innen in Punkte zu übersetzen. Sprachliche Fähigkeiten werden oft in die Bewertung einbezogen und beeinflussen diese, obwohl sie vorher nicht als Kriterium angelegt wurden und manchmal nur wenig über die fachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen aussagen.
Für diese Herausforderung und das damit verbundene Risiko einer Schieflage in der Bewertung und Förderung von Schüler*innen sollten Lehrkräfte ein Bewusstsein entwickeln. Dies kann unter anderem dadurch gelingen, dass ein Erwartungshorizont vor der Korrektur explizit gemacht wird, in dem die beiden Dimensionen (Fach und Sprache) getrennt bewertet werden können.
Darüber hinaus ist der Austausch im Kollegium eine Möglichkeit, über diese anspruchsvolle, oft allein am Schreibtisch zu bewältigende Aufgabe zu reflektieren und gemeinsam Kriterien und Strategien zu entwickeln. Das Thema sollte schließlich stärker in Fortbildungen für aktive Lehrkräfte integriert werden, so Markus Feser.
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt von Markus Feser gibt es hier.
Über die Projekte des Arbeitsbereiches Physikdidaktik (Prof. Dr. Dietmar Höttecke) können Sie sich hier informieren.