Dezember: Nutzen Studierende ihr Professionswissen im Kontext von Unterricht?
21. Dezember 2021, von Katrin Steinvoord und Nicole Masanek
Foto: @Nicole Masanek
Was sie an der Universität lernen, können junge Akademikerinnen und Akademiker in der Praxis häufig nicht sofort anwenden. Im Studium erarbeiten sich auch Lehramtsstudierende Grundlagen in vielen Bereichen. Dazu gehört Fachwissen sowie fachdidaktisches und pädagogisches Wissen. Doch welche dieser Professionswissensbereiche wenden sie wann und in welchem Umfang an? Im Interview gibt Dr. Nicole Masanek aus dem Projekt ProfaLe erste Antworten darauf.
Was ist der Inhalt dessen, was Sie dort erforschen? Worum geht es dabei?
Mein Kollege Jörg Doll und ich untersuchen zwei Leitfragen. Einmal möchten wir gerne herausfinden, ob und wie Lehramtsstudierende mit dem Fach Deutsch das während ihres Studiums erworbene Professionswissen (Fachwissen, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen) in schulischen Handlungssituationen überhaupt nutzen. Und die zweite Frage ist, inwieweit sie die fachlichen, pädagogischen und fachdidaktischen Wissensbestände, die sie ja in verschiedenen Disziplinen und hier in Hamburg zum Teil sogar an verschiedenen Fakultäten erlernen, miteinander in Beziehung setzen können. Dieses Forschungsinteresse ist eng angelehnt an meine Tätigkeit bei ProfaLe („Professionelles Lehrerhandeln zur Förderung fachlichen Lernens“, gefördert vom BMBF) im Handlungsfeld 1, wo ich für die Kooperation zwischen Fach und Fachdidaktik zuständig bin.
Wie sieht das Ganze dann in der Forschungspraxis aus?
Wir brauchten natürlich erstmal ein Erhebungsinstrument, das eine schulische Handlungssituation simuliert. Dazu habe ich eine Textvignette entworfen, die eine Unterrichtsplanung zum Thema Epochen der deutschsprachigen Literatur enthielt (siehe Abbildung 1). Diese Planung haben wir einer fiktiven Studentin Emilie zugeschrieben, die ihre erste Unterrichtsstunde in einem Schulpraktikum plante. Sie ist durchzogen von jeweils mehreren fachlichen, fachdidaktischen sowie pädagogischen Problemen, d. h. verbesserungs- oder zumindest diskussionswürdigen Auffälligkeiten. Ein pädagogisches Problem ist zum Beispiel, dass in dieser Unterrichtsplanung überhaupt keine Möglichkeiten zum Umgang mit der Heterogenität der Schüler:innen angeboten werden. Diese Vignette haben wir unseren Proband:innen (Lehramtsstudierenden mit dem Fach Deutsch) vorgelegt. Sie sollten sich vorstellen, die Deutschstunde im Schulpraktikum gemeinsam mit Emilie durchzuführen. Ihre Aufgabe bestand darin, dass sie die Unterrichtsplanung beurteilen und gegebenenfalls durch Alternativen ergänzen sollten. Das ist eine offene Aufgabenstellung, die den Studierenden die Möglichkeit ließ, auf die Inhalte in der Vignette zu reagieren, die sie als besonders wichtig erachteten. Die Vignette wurde ergänzt durch einen Fachwissenstest zu dem Thema Epochen.
Abbildung 1: Textvignette und Beispiele von Antworten der Studierenden
Das heißt, Sie haben zwei Erhebungsinstrumente miteinander kombinieren können. Welche Ergebnisse sind denn dabei herausgekommen? Was könnte uns in der EW besonders interessieren?
Ganz auffällig ist, dass die Studierenden in der deutlichen Mehrheit mit pädagogischen Wissensbeständen auf die Unterrichtsplanung geantwortet haben. Das heißt, sie haben zum Beispiel kommentiert, dass dies eine Unterrichtplanung ist, die die Schüler:innen überhaupt nicht motiviert oder auch Inklusionsbedarfe nicht berücksichtigt. Parallel zu dieser Dominanz des pädagogischen Wissens äußerten die Studierenden kaum fachliches Wissen und sind auch auf die fachlichen Probleme in der Vignette wenig eingegangen. Fachdidaktisches Wissen wurde dagegen schon recht häufig formuliert, allerdings blieb dieses fachlich sehr ungenau.
Und Sie hatten ja auch gerade gesagt, dass sie die Vignetten mit einem Fachwissenstest kombiniert haben. Verfügen die Studierenden also über zu wenig Fachwissen oder können sie es nur in der Vignette nicht richtig anwenden?
Genau das ist die spannende Frage, die wir uns dann auch gestellt haben. Und erstmal hat die Auswertung dieses Fachwissenstests gezeigt, dass die Studierenden (sowohl Bachelor als auch Master) beide über ein recht gering ausgeprägtes Fachwissen verfügen (hier explizit literaturwissenschaftliches Wissen zu dem Thema Epochen). Insgesamt 22 Punkte hätten erreicht werden können. Die Bachelorstudierenden haben im Mittel 11 von 22 Punkten erreicht. Wenn man bedenkt, dass dieser Fachwissenstest bei den Bachelorstudierenden unmittelbar im Anschluss an die Vorlesung über die Epochen der deutschsprachigen Literatur durchgeführt wurde, ist das schon ein erstaunliches und ein insgesamt schwaches Ergebnis. Noch schlechter haben allerdings die Masterstudierenden abgeschlossen: Sie erreichten im Mittel nur 8 von 22 Punkten. Spannend war weiterhin, die beiden Erhebungsinstrumente in Beziehung zu setzen. Dabei hat sich herausgestellt, dass bei den Bachelorstudierenden überhaupt kein Bezug besteht zwischen dem im Test demonstrierten Fachwissen und der Nutzung dieses Fachwissens in der Vignette. Wir hatten also Studierende, die durchaus über ein ziemlich hohes Epochenwissen verfügten, die das aber einfach in der Vignette nicht eingesetzt haben. Anders war das bei den Masterstudierenden. Die wenigen Studierenden, die über ein hohes Fachwissen verfügten, haben dieses bei der Bearbeitung der Vignette auch genutzt.
Wir haben uns das dadurch erklärt, dass die Masterstudierenden allesamt schon ein Kernpraktikum vollständig absolviert hatten und dass ihnen vielleicht durch das Zusammenspiel zwischen Praxis und theoretischer Begleitung der Praxis die Bedeutung des Fachwissens nochmal klargeworden ist.
Was kann man aus diesen Ergebnissen nun für Ableitungen herstellen?
Zunächst einmal wird deutlich, dass die Studierenden über ein nur geringes literaturwissenschaftliches Wissen im Bereich der Epochen verfügen. Insgesamt scheint der ganze Bereich der Fachlichkeit für Lehramtsstudierende offensichtlich ein Problem darzustellen. Deshalb glaube ich, dass die Fachwissenschaften und die Fachdidaktiken enger zusammenarbeiten müssen. Hierfür gibt es natürlich vielfältige Möglichkeiten. Kooperative Seminare sind eine Möglichkeit. Dabei sollte aber immer genau überlegt werden, zu welchem Zeitpunkt im Studium diese angeboten werden. Denn für Studierende ist es häufig sehr komplex, wenn Inhalte sowohl aus fachlicher als auch aus fachdidaktischer Perspektive besprochen werden. Auch abgeschwächte Formen von Kooperationen sind möglich: Wir haben jetzt zum Beispiel in der Germanistik eine Vorlesung zu Kinder- und Jugendmedien ins Leben gerufen, in der wir kleine fachdidaktische Ausblicke bzw. Fragestellungen am Ende einbauen und so schon mal einen Blick darauf werfen, was die vermittelten literaturwissenschaftlichen Inhalte jetzt eigentlich mit Literaturunterricht an der Schule zu tun haben.
Außerdem haben wir in der Germanistik eine digitale Materialplattform entworfen. Die besteht aus Material aus dem Kontext Schule, also zum Beispiel Erzählungen, die Schüler:innen geschrieben haben oder Auszüge aus einem Schulbuch. Diese Materialplattform wird in der germanistischen Lehre eingesetzt. Das funktioniert so: Nachdem zum Beispiel das Thema Lyrik in dem Einführungskurs zur Neueren deutschen Literaturwissenschaft vermittelt wurde, wird den Studierenden Schulbuchmaterial zur Lyrik vorgelegt. Das sollen sie dann fachlich beurteilen. Wir hoffen, dass den Studierenden dadurch schon klar wird, dass sie halt auch fachlich gucken müssen, wenn sie später Lehrer:innen sind. Aber es fällt den Studierenden wahnsinnig schwer.
Also Sie arbeiten ja weiter im Handlungsfeld 1 von ProfaLe. Was wollen Sie weitergehend erforschen?
Uns interessiert jetzt natürlich ganz besonders, ob diese Ergebnisse nur typisch für Lehramtsstudierende mit dem Fach Deutsch sind oder sogar nur typisch für das gewählte Thema Epochen. Deshalb haben wir jetzt eine neue Untersuchung mit einer strukturell zwar identischen, thematisch aber anders gelagerten Vignette gemacht: Es geht nicht mehr um die Epochen, sondern um Lyrik. Spannend ist die Frage, ob die Studierenden wieder so häufig pädagogisch geantwortet haben oder nicht. Und dann muss natürlich geklärt werden: Inwieweit haben unsere Ergebnisse Gültigkeit auch für andere Fächer? Wir haben mit Masterstudierenden mit Fach Geografie schon zusammen mit Dr. Nina Scholten eine Vignette zum Thema Ökosysteme konstruiert und eine parallele Erhebung durchgeführt. Dort haben wir erste Ergebnisse, die vergleichbar mit denen aus dem Fach Deutsch sind. Insofern kann man die vorsichtige Prognose wagen, dass das nichts ist, was nur für das Fach Deutsch Gültigkeit hat.
Und spannend ist dann drittens, ob das Erforschte nur Gültigkeit für die Lehramtsausbildung an der Universität Hamburg hat. Deshalb haben wir die Lyrik-Vignette auch an der Universität Duisburg-Essen eingesetzt. Anfang des kommenden Jahres werden wir wissen, ob sich die Lehramtsstudierenden beider Universitäten unterscheiden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Weiterführende Informationen
Frau Dr. Nicole Masanek ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Oberstudienrätin für die Fächer Deutsch und Geschichte. Seit 2016 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei ProfaLe im Handlungsfeld 1 und ist dort für die Kooperation zwischen Fach und Fachdidaktik zuständig. Derzeit habilitiert sie bei Prof. Dr. Thomas Zabka zum Thema „Vernetztes Denken und Vernetzung denken“.