November: Mit 'Oral History' Erinnerungen rekonstruieren„Ich bitte dich, mir deine Lebensgeschichte als ehemaliges Normalheimkind in der DDR so detailliert wie möglich zu erzählen.“
25. November 2021
Foto: @Constanze Schliwa
In den letzten Jahren ist ein wachsendes öffentliches Interesse an der Aufarbeitung des Heimerziehungssystems der DDR zu verzeichnen. Dabei fällt auf, dass sich die Forschung vor allem auf Einrichtungen konzentriert, in denen sogenannte „Schwererziehbare“ zu sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden sollten. Die Erforschung der „Normalheime“ für Minderjährige ohne Erziehungsschwierigkeiten erhält noch immer wenig Aufmerksamkeit. Das Dissertationsprojekt von Constanze Schliwa Erinnern und Verarbeiten des Aufwachsens in Normalkinderheimen der DDR von 1965 bis 1989. Eine Oral History-basierte Untersuchung zielt darauf ab, einen Beitrag zur allmählichen Schließung dieser Forschungslücke der DDR-Heimgeschichte zu leisten.
Oral History – Erinnerungsinterviews mit ehemaligen Normalheimkindern
Die Oral History ist eine geschichtswissenschaftliche Methode, die auf subjektiven Erinnerungsinterviews mit Zeitzeug:innen fußt. Ihr Potential liegt vor allem darin, alltags- und erfahrungsgeschichtliche Erkenntnisse zu gewinnen. Es geht nicht zwangsläufig darum, Informationen darüber zu erhalten, wie vergangene Ereignisse und Begebenheiten tatsächlich waren, sondern wie die Interviewten diese erinnern, beschreiben und sich selbst dazu in Beziehung setzen.
Zwar bemühen sich bereits verschiedene Projekte darum, ehemalige Heimkinder selbst zu Wort kommen zu lassen und ihre individuellen Lebensgeschichten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (s. z.B. das Zeitzeugenarchiv der Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau e.V.). Ehemalige Normalheimkinder sind allerdings selten vertreten. Ein Grund dafür ist, dass vielen der Zeitzeug:innen nicht bewusst ist, dass sie mit ihrer Lebensgeschichte einen Beitrag zur Erforschung eines bisher kaum bedachten Bereichs der DDR-Geschichte leisten können. Häufig wird die Auffassung vertreten, die eigene Biographie als ehemaliges Normalheimkind sei weniger relevant als die von Betroffenen, die in Spezialheimen lebten. Mit ihrer Forschung möchte Constanze Schliwa herausfinden, welche Erinnerungen Normalheime erzeugen und inwiefern sie das Leben und Verhalten der ehemaligen Heimkinder nachhaltig bestimmen.
Für das Dissertationsprojekt wurden 16 biographisch-narrative Interviews mit Personen geführt, die im Zeitraum von 1965 bis 1989 in Normalheimen der DDR aufgewachsen waren oder aber Teile ihrer Kindheit bzw. Jugend dort verbracht hatten. Die Interviews umfassen im Wesentlichen zwei Teile: Die biographische Selbstpräsentation der Zeitzeug:innen, in der eigene Schwerpunkte gesetzt werden, und die abschließende Nachfragephase. Alle Interviews wurden mit Hilfe eines Diktiergeräts aufgezeichnet und anschließend in Schriftform überführt. Entstanden sind wortgetreue Protokolle (Transkripte), in denen auch Dialekte, Betonungen, Pausen, Versprecher und ähnliches enthalten sind. Das kommt der anschließenden Interpretation zugute: So werden Themen und Ereignisse, die für die Interviewpartner:innen in irgendeiner Form von Bedeutung sind, bereits im Transkript anhand der Zeichensetzungen visuell sichtbar. WIE sie den Inhalt ihrer Aussagen gestalten (z.B. begleitet von langem Einatmen, vielen Pausen o.ä.) und über vergangene Ereignisse reflektieren, lässt in der Regel Rückschlüsse auf den Stellenwert des Gesagten zu, liefert Anhaltspunkte für die Interpretation und macht diese auch für Dritte nachvollziehbar.
Ausgehend von den verschriftlichten Interviews wurden die Lebensläufe rekonstruiert und einzelne Passagen entlang der Forschungsfragen analysiert. Nachstehend soll am Beispiel eines Transkriptauszugs aus dem Interview mit Andreas (anonymisiert) veranschaulicht werden, wie das etwa für Sozialbeziehungen innerhalb eines Heimkollektivs geschehen kann. Die folgende (komprimierte) Interpretation ist weder wertend gemeint noch muss sie der Selbstdeutung des Interviewten entsprechen. Wenngleich die Interpretationsansätze begründet werden, sind auch andere Deutungen des Auszugs denkbar.
Andreas: „Also wenn eener dit nich so jemacht hat wie wir dat wollten, gab‘s eine.“
Nach der Scheidung seiner Eltern wuchs Andreas zunächst gemeinsam mit seiner Schwester bei der Mutter auf. Diese war in der Gastronomie tätig und selten zu Hause. Andreas erklärt, „immer unbeaufsichtigt“ gewesen zu sein, weshalb er „einen Haufen Mist gemacht“ habe. Schließlich suchte seine Mutter Rat bei der Jugendhilfe. In der Konsequenz wurde ihr Sohn im Alter von 13 Jahren in ein Normalkinderheim eingewiesen. Weil er immer wieder zu seiner Großmutter entwich, ordnete die Jugendhilfe für ihn die Umerziehung in einem Spezialheim an. Als Andreas dieses nach mehr als einem halben Jahr verlassen durfte, wurde er in einem anderen Normalheim untergebracht. Transkriptauszug aus dem Interview mit Andreas (grau: Kontext/bereinigtes Transkript; Beispielhafte Interpretation eines Interviewausschnitts [entfernt: Interpretation der grau markierten Textstelle]: Die Situation der Kinder und Jugendlichen, die introvertierter waren und sich dem Willen von Andreas und seiner Clique nicht beugen wollten, bezeichnet der Zeitzeuge als „schwer“. Der Abbruch seiner Satzkonstruktion und die Dehnung des Wortes „dann“ legen den Schluss nahe, dass Andreas zunächst nicht aussprechen will, was er damit meint bzw. nach einer Formulierung sucht, die sozial erwünscht ist. Er entscheidet sich gegen eine Umschreibung und fasst den Alltag dieser Heimkinder deutlich unter dem Wort „Gewalt“ zusammen. Auffallend ist, dass er die zweite Silbe des Wortes betont („geWALT“). Auf eine kurze Pause und eine bestätigende Hörer:innenäußerung durch die Interviewende folgt eine weitere 1,2-sekündige Pause begleitet von einem Schnalzlaut des Zeitzeugen. Vermutlich versucht er, das zuvor Gesagte zu konkretisieren. Vielleicht ist genau das aber gerade unaussprechbar für ihn. Denkbar ist auch, dass er das Machtverhältnis und das Ausmaß für die Beteiligten verdeutlichen möchte, womit auch die zuvor erwähnte Betonung begründet werden könnte. Schließlich erklärt er, dass Forderungen („wenn einer das nicht so gemacht hat, wie WIR das wollten“) von ihm und den anderen Jugendlichen an der Spitze („WIR“) mitunter durch Prügel eingetrieben wurden („gab’s eine“). Seinem (Ein-)Geständnis (?) gehen eine längere Pause (1,3 Sekunden) und ein wiederholtes Schnalzen mit der Zunge voraus. Beides stützt die zuvor getätigten Annahmen. Wie aus anderen Interviews deutlich wurde, besetzten in der Regel die ältesten Heimkinder die oberen Ränge. Ein Interviewpartner spricht hierbei vom „Generationenarschtritt“. Andreas wurde erst im Teenageralter in das Normalkinderheim eingewiesen. Möglicherweise konnte er aufgrund dessen „sehr weit oben“ in der Hierarchie stehen. Auch der Umstand, dass er ein hohes Selbstbewusstsein hatte und so eventuell bereits durch sein Auftreten signalisierte, dass er sich nicht unterordnen wird, könnte seine Position im Heim begünstigt haben. |
Dieser kleine Ausschnitt soll zeigen, dass durch die Oral History neue Quellen erschlossen werden können. Fragen des individuell erlebten Heimalltags und insbesondere seiner Folgen lassen sich kaum mithilfe von Heimakten beantworten. Sie liegen – wenn überhaupt – meist unvollständig als Abbilder institutioneller Kommunikation vor und erfassen Aussagen der betroffenen Heimkinder allenfalls punktuell und gefiltert. In den lebensgeschichtlichen Interviews kommen die Zeitzeug:innen zu Wort. Sie erzählen wie sie Geschichte selbst mitgestalteten und nehmen bereits eigene Deutungen des Vergangenen vor. Demnach bilden ihre Erinnerungen einen wesentlichen Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses.
Text: Constanze Schliwa
Weitere Informationen
Constanze Schliwa arbeitet im Arbeitsbereich „Historische Bildungsforschung“ von Prof. Dr. Kesper-Biermann.
Dissertationsprojekt: „Erinnern und Verarbeiten des Aufwachsens in Normalkinderheimen der DDR von 1965 bis 1989. Eine Oral History-basierte Untersuchung“