Oktober: Sprache und Lernen im Unterrichtsfach PhysikWann verstehen Schülerinnen und Schüler Physiklerntexte und wann nicht?
27. Oktober 2021, von Katrin Steinvoord
Foto: privat
Beim Physiklernen denkt man sofort an Formeln, Pfeile und kompliziert aussehende Grafiken. Es ist aber auch spannend, sich einmal anzuschauen, wie Sprache und Lernen im Unterrichtsfach Physik zusammenhängen und damit einhergehend die Frage zu stellen: Wie einfach müssen Texte im Physikbuch geschrieben sein? Timo Hackemann aus dem Arbeitsbereich Physikdidaktik stellt heute im Interview sein Forschungsprojekt vor.
Bitte stelle dir vor, du erklärst jemandem bei einem Speed-Dating, was der Kern deines Forschungsprojektes ist. Wie würdest du dann den Inhalt deines Forschungsprojektes beschreiben?
In dem Projekt geht es darum, ob die sprachliche Ausgestaltung von Texten in den Naturwissenschaften – hier bei uns geht es um Lerntexte der Physik – einen Einfluss auf das Verständnis hat. Also, ob man einen Text, der sprachlich leicht geschrieben ist, besser versteht als einen Text, der sprachlich schwer geschrieben ist. Was intuitiv ja zu erwarten wäre. Die Sprache meint damit wirklich nur Wörter, Grammatik, Satzstruktur usw. – nicht den Inhalt, der ist über die sprachlichen Varianten, die in dem Projekt eingesetzt werden, konstant gehalten, sodass wirklich nur die Sprache variiert. Sinn und Zweck dahinter ist, dass man auch sprachlich schwachen Schüler:innen im Unterricht die gleichen Lern- und Erfolgschancen ermöglichen möchte, wie sprachlich starken Schüler:innen.
Du hast gerade von „man“ geredet: Wen betrifft deine Forschung? Wer wird beforscht?
Es geht um naturwissenschaftliche Texte am Beispiel Physik. Wir haben uns dazu entschieden, in der Mittelstufe (7.- 9. Klasse) zu erheben – aufgrund von Corona haben mehr Gymnasien teilgenommen –, weil das die Stufen sind, die Physik schon als eigenständiges Fach im Unterricht haben. Die Schüler:innen hatten schon Kontakt mit Physik, aber noch kein Vorwissen zu bestimmten Bereichen, wie zum Beispiel dem Inhalt unserer Texte. Unsere Texte sollen Lerntexte im Bereich der Wärmelehre sein, mit denen man sich neues Wissen erarbeitet, ohne dass man dafür Vorwissen in Physik haben muss.
Du hast angedeutet, dass ihr diese Lerntexte auf sprachlicher Ebene verändert. Wie sieht das genau aus?
Man kann eine Sache, einen Inhalt in Physik sehr fachsprachlich darlegen oder mit alltagssprachlichen Mitteln beschreiben. Wir haben einen Text geschrieben, der immer erst einmal ein Phänomen aus dem Alltag benutzt, um etwas physikalisch richtig zu erklären. Das kann man einmal in mündlicher Sprache tun, so wie ich jetzt gerade spreche, oder man kann es in sehr schriftsprachlicher Art und Weise tun, so wie es zum Beispiel die Personen, die in der Tagesschau sprechen, tun, oder noch schriftsprachlicher, wenn man ein Lexikon aufschlägt, wo die Inhalte stark verdichtet dargelegt werden. Wir gucken uns nun an, ob es einen Unterschied macht, ob physikalische Lehrtexte in alltagssprachlicher oder in eher bildungssprachlicher Sprache verfasst werden. Diese sprachliche Variation erfolgt nicht aus dem Bauch heraus, sondern sie wird anhand festgelegter Regeln eines Sprachmodells systematisch umgesetzt. An dem Beispiel in Abbildung 1 kann man sehen, welche inhaltlichen Aspekte konstant gehalten werden. In der zweiten Abbildung kann man dann sehen, was beispielweise in den unterschiedlichen Niveaus verändert wird. Hervorgehoben ist die Variation einiger Verben, wodurch die Sprache beispielsweise „schwieriger“ und die Transparenz geringer wird. Aber es wird auch noch viel mehr verändert.
Abbildung 1: Beispiel für die gleichbleibenden Aspekte (@privat)
Abbildung 2: Beispiel für die Veränderungen in den einzelnen Niveaus (@privat)
Welche konkreten Ergebnisse sind aus dem Projekt entstanden? Wie kann man diese einordnen?
Herausgekommen ist, dass durch die Variation der Sprache kein unterschiedliches Textverständnis bei den Schüler:innen erzeugt wurde. Das heißt also: Egal, ob Schüler:innen einen sprachlich leichten oder sprachlich schwierigen Text gelesen haben, war das Verständnis hinterher im Durchschnitt gleich groß. Allgemein haben sprachlich Schwächere ein schlechteres Textverständnis erzielt als sprachlich starke Schüler:innen, aber unabhängig davon welche Sprachvariante sie gelesen haben. Dieses Ergebnis geht einher mit verschiedenen anderen Studien, die gezeigt haben, dass es wenn dann inkonsistente Effekte gibt, also bestimmte Personengruppen teilweise von bestimmten Aspekten von Sprache profitieren und andere wiederum nicht
Für welche Personengruppe könnten die Ergebnisse interessant und/oder relevant sein?
Sachtexte im Unterricht kommen meistens in Schulbüchern vor. Bei der Schulbuchgestaltung werden sprachliche Merkmale bisher wenig bis gar nicht beachtet. Wenn Schulbücher geschrieben werden, sind in den seltensten Fällen Linguist:innen oder Sprachwissenschaftler:innen dabei – zumindest in den Naturwissenschaften. Das wurde oft kritisiert, aber unsere Studie und auch andere Studien weisen darauf hin, dass das gar nicht so ein riesen Problem ist. Schüler:innen in Regelklassen können damit gut umgehen, egal welches sprachliche Anforderungsniveau ein Text aufweist. Hier ist wichtig zu sagen, dass unsere Stichprobe aufgrund der Einschränkungen der Corona-Pandemie einen höheren Anteil an Lernenden des Gymnasiums hatte. Für Schüler:innen mit Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache gilt das nicht. Sie brauchen Unterstützung und zunächst leichtere Texte.
Jetzt sagtest du ja, dass das ein Ergebnis ist, was erst einmal gegen die Intuition geht, die ihr auch mitgebracht habt und mit der ihr an die Forschung herangegangen seid. Wie erklärst du dir / ihr euch, dass das trotzdem sinnhaft ist, dass das Ergebnis logisch ist? Gibt es da erste Erklärungsansätze?
Es gibt verschiedene Interpretationen der Ergebnisse. Wenn man von einem Arbeitsgedächtnis ausgeht mit einer begrenzten Kapazität, die für Prozesse zur Verfügung steht, könnte es sein, dass – weil die Texte nach anderen Qualitätsmerkmalen sehr gut verfasst wurden (Struktur, Prägnanz usw.) – die sprachliche Variation einfach keine zu hohe Belastung erzeugen konnte, sondern immer noch genug Kapazitäten da waren, um den Text richtig zu verarbeiten und verstehen zu können. Eine Möglichkeit ist also, dass die Texte auf dieser Ebene einfach zu gut sind. Das würde aber bedeuten, wenn man Texte grundsätzlich nach bestimmten Qualitätsmerkmalen erstellt, beispielsweise mit einer bestimmten Gliederung oder wenn man vernünftige Phänomene oder Alltagserfahrungen einbaut, dass man dann Texte erstellen würde, die alle Schüler:innen gut verstehen. Das wäre schon mal eine Erkenntnis, die man auch umsetzen könnte.
Eine andere Erklärung ist, dass die Schüler:innen gar nicht den kompletten Text zum Beantworten der Verständnis-Items gelesen haben, sondern sich nur einzelne Aspekte markiert und rausgelesen haben. Das heißt, sie haben ein Item gelesen, das Item verstanden und dann nur noch die relevanten Informationen durch eine gute Lesestrategie aus dem Text extrahiert und in Verbindung gesetzt. In diesem Fall würde die Lesestrategie sozusagen die sprachliche Anforderung kompensierend wirken. Das wäre auch eine Möglichkeit.
Oder es ist wirklich so, wie das Ergebnis aussieht, dass die sprachliche Variation einen sehr geringen bis gar keinen Effekt hat und eigentlich nur die semantische Gliederung und der Inhalt zu Verständnisschwierigkeiten führen, die Sprache an sich eigentlich nicht. Alle Interpretationen immer unter Berücksichtigung der durch Corona-bedingten Stichprobe mit hohem Anteil an Lernenden des Gymnasiums. Bisher kennen wir die Gründe hierfür noch nicht genau.
Wenn du jetzt nochmal drei Jahre Zeit hättest, wie würdest du die Forschung weiterführen und welche weiterführenden Fragen findest du an dieser Stelle interessant?
Sehr interessant wäre, die Texte, die wir jetzt eingesetzt haben, in einer Anschluss-Studie mit Schulbuchtexten zu einem gleichen Inhalt zu vergleichen, weil Schulbuchtexte von Schüler:innen schon mehrfach als schwer verständlich bewertet wurden und die Texte unserer Studie von Schulbuchtexten abweichen, weil sie nach Textqualitätsmerkmalen besser geschrieben wurden. Da zu untersuchen, ob es da eine unterschiedliche empfundene Verständlichkeit und auch ein schlussendlich unterschiedliches Textverständnis ergeben würde – das müsste man überprüfen, weil dann könnte man diese Idee, Schulbuchtexte nach Textqualitätsmerkmalen zu verfassen auch wissenschaftlich bestätigen oder bestätigen, dass es sinnvoll ist.
Man könnte außerdem mit einer Eyetracking-Methode schauen, ob es überhaupt längere Lesezeiten, Fokussierung oder Leseabbrüche an bestimmten, als schwierig empfundenen sprachlichen Merkmalen im Text gibt. Also, ob Schüler:innen an den Merkmalen, bei denen wir aus anderen Studien wissen, dass sie kognitiv belastend sind, auch wirklich beim Lesen unserer Texte Schwierigkeiten hatten, oder ob sie wirklich – wie schon vermutet – die relevanten Informationen durch Abscannen raussuchen. Das wäre wirklich interessant für unsere Studie, um die Interpretationsideen, die wir haben belegen zu können.
Als letztes eine kurze, eher persönliche Frage: Wie kommt es, dass du dich als Physiker mit Sprache auseinandersetzt?
Physiklernen ist schon immer auch Fachsprache lernen. Wenn man überlegt, dass Begriffe wie Kraft oder Energie im Alltag ständig vorkommen, (zum Beispiel Energieverbrauch oder die Energiewende – wo sich ein Physiker vielleicht auch denkt: „Energie kann man nicht drehen und wenden!“), geht Physiklernen oder allgemein naturwissenschaftliches Lernen immer Hand in Hand mit Vokabellernen, Begriffe lernen. In den letzten Jahren beschäftigt sich die fachdidaktische Forschung viel mit der Frage, wie man das explizit fördern kann, vor allem weil wir auch zu einer multikulturellen und multilingualen Gesellschaft wachsen, in der man Schüler:innen mit verschiedensten sprachlichen und sozialen Herkünften unterstützen möchte. Daher kommt die Idee. Selbst habe ich das erfahren als Lehrkraft in Schulen mit großer sprachlicher Heterogenität. Dort werden tatsächlich Unterstützungsmöglichkeiten gebraucht – in unseren untersuchten Schulklassen wiederum anscheinend nicht. Das war jetzt entgegen unserer Erwartung. In der Forschungslage gibt es aber immer mehr Hinweise dafür, dass Sprache relativ wenig Einfluss auf Textverstehen hat.
Weitere Informationen
Im Interview stellt diesen Monat Timo Hackemann sein Dissertationsprojekt mit dem, Titel „Wirkung des sprachlichen Anforderungsniveaus physikbezogener Sachtexte auf das Textverständnis“ vor. Dieses ist eingebettet in eine größere interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Fach und Sprache, FuS“ (Beteiligung der Fakultät: Physik und empirische Bildungsforschung) und beschäftigt sich vor allem mit der Veränderung des Anforderungsniveaus bei Lerntexten im Unterrichtsfach Physik. Timo Hackemann arbeitet in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Dietmar Höttecke.