Es gibt keine Fahrradspur über die Kreuzung, dafür hohe Luftbelastung an der großen Straße und der einzige barrierefreie Zugang zur U-Bahn ist mal wieder gesperrt: Nachhaltigkeitsprobleme finden Mia und Tarek an jeder Ecke und überall. Das Forschungsprojekt SCoRe will das nutzen und gleichzeitig herausfinden, wie die beiden darin unterstützt werden können, Nachhaltigkeitsprobleme zu sehen und sich für eine nachhaltige Entwicklung einzusetzen.

Ein Smartphone in der Tasche und ein Computer mit Internetzugang sind zunächst alles, was die beiden Studierenden brauchen, um über eine speziell dafür entwickelte Lernplattform an Nachhaltigkeitsprojekten mitforschen zu können. Die Projekte, die sie über die SCoRe-Plattform umsetzen, sind inhaltlich auf Nachhaltigkeit ausgerichtet: Sie nehmen ihren Ausgangspunkt in Nachhaltigkeitsproblemen, die mit (Smartphone-)Videos festgehalten werden, und enden im besten Fall mit Lösungsideen, die wiederum in einem Video präsentiert werden. Die Idee dahinter ist, dass Video eine niedrigschwellige Art ist, Nachhaltigkeitsprobleme für viele Menschen sichtbar zu machen wie auch genauer zu untersuchen. Tarek erkennt schnell, was gemeint ist:

Als er an einer belebten Kreuzung in der Nähe vom Hauptbahnhof vorbeikommt, zückt er sein Smartphone und filmt, wie er als Fußgänger über die Straße geht und dabei ein Auto umrunden muss, das halb auf der Kreuzung steht: eine kritische Interaktion, wie sie für das Forschungsprojekt, an dem er beteiligt ist, besonders wichtig ist. Eine Totale braucht er noch, um die Kreuzung komplett sichtbar zu machen – so verlangt es der Datenerhebungsplan. Noch nie ist ihm aufgefallen, wie ungerecht eigentlich der Verkehr geplant ist. Durch das elfte Ziel für nachhaltige Entwicklung, in dem der Fokus auf „nachhaltige Städte und Gemeinden“ gelegt wird, sollte doch gerade für Fahrradfahrer der Straßenverkehr attraktiver werden. Doch auch andere Nachhaltigkeitsprobleme kommen ihm während der Forschung auf der SCoRe-Plattform immer stärker ins Bewusstsein.

So vielfältig wie Nachhaltigkeitsprobleme sind auch die Perspektiven und Vorkenntnisse, die Mia und Tarek mit ihren Studienorten und -fächern mitbringen: Während Mia sich mit Methoden der empirischen Forschung auskennt, kann Tarek an sein Wissen anknüpfen, das er in einer Vorlesung zum nachhaltigen Management im letzten Semester gewonnen hat. Gemeinsam sollen sie lernen, aktiv zu werden und forschend-fragend ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Nachhaltigkeitsfragen komplex und Dilemmata allgegenwärtig sind, eine Problemlösung also häufig neue Probleme mit sich bringt.

Wie gestaltet sich der Straßenverkehr an Kreuzungen für verschiedene Verkehrsteilnehmende? Wer wird strukturell bevorzugt oder benachteiligt? Welche Implikationen ergeben sich für eine nachhaltige Verkehrsplanung? Bei SCoRe geht es nicht nur ums Lernen zu Nachhaltigkeit und den aktiven Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung, sondern um eine fragende, forschende Herangehensweise an das Thema. Wer statt mit vorgefertigten Meinungen mit offenen Fragen und im Austausch mit anderen systematisch an ein Problem herangeht, hat die besseren Chancen, die Problematik in der Tiefe zu verstehen und vielleicht auch eine tragfähige Lösung zu finden. Doch was kann Student Crowd Research dazu beitragen? Um offene Fragen aufdecken zu können und in den Austausch zu kommen, bekommen Mia, Tarek und ihre Mitstudierenden Zugang einer Online-Plattform und damit einen Raum für ihre ganz konkreten Beiträge zur Definition, Analyse oder Lösung eines Nachhaltigkeitsproblems. Sie finden dort Anleitungen zum Forschungsprozess, Vorlagen und unterstützenden Materialien wie z.B. Tutorials, einen gemeinsamen Arbeitsbereich für Texte, Bilder und Videos sowie einen Chat zum Austausch. Mia, die digitales Arbeiten schon länger gewöhnt ist, versucht gleich, Kontakt zu anderen Studierenden aufzunehmen, um sie mit ihrer Forschung zu unterstützen.

Der Austausch ist wichtig für Student Crowd Research, da die Studierenden gemeinsam in asynchroner Zusammenarbeit Forschungsprojekte entwickeln und durchführen. Durch ihre ausgewählte Mitarbeit in den Forschungsprojekten trägt Mia einen Teil zu einem Forschungsprozess bei. Je nachdem, welchen Stand ihr ausgewähltes Forschungsprojekt gerade hat, kann sie sich, an der Eingrenzung eines Themas, an der Forschungsplanung, an der Umsetzung oder auch an der Projektpräsentation beteiligen. Mia hat in ihrem Studium bereits ein Methodenseminar besucht. Sie unterstützt mit ihrem Wissen dabei, das Forschungsdesign auszuarbeiten, und leitet aus der bereits vorhandenen Forschungsfrage Kriterien für die Datenerhebung ab.

Auch wenn Mia  durch ihre Mitarbeit bei der Forschungsplanung einen guten Überblick über das Forschungsprojekt hat, kann diese Art des Mitforschens für andere Studierende eine besondere Herausforderung darstellen: Wie können sie ihre Forschungstätigkeiten in den gesamten Forschungsprozess einordnen und den Gesamtzusammenhang nachvollziehen? Das ist eine Frage, die nicht nur in der theoretischen Modellierung, sondern auch in der Gestaltung der Plattform besonders berücksichtigt wird: In SCoRe sollen die Studierenden einen Eindruck von der Komplexität von Forschung bekommen, ohne den gesamten Prozess selbst zu durchlaufen. Über eine angeleitete Reflexion mit einer Einordnung der eigenen Tätigkeiten in den Forschungszyklus können sie erkennen, dass sie einen (wichtigen) Teil zu einem Ganzen (Forschungsprozess) beitragen.

Die Forschungsfragen in SCoRe sind vielfältig und können von den Studierenden ausgewählt oder mitbestimmt werden. Im letzten Wintersemester haben die Studierenden untersucht, wie sich Kreuzungen für verschiedene Verkehrsteilnehmende darstellen und wie urbane Grünflächen genutzt werden. Im Sommersemester haben sie sich außerdem den Themen „Fahrradmobilität in Städten“, „Nachhaltiger Konsum“ und „Bildungsangebote für nachhaltige Entwicklung“ gewidmet.

Mit welcher Art der Einführung können die Studierenden einen leichteren Einstieg ins Forschen auf der SCoRe-Plattform finden? Soll die Einführungslektion verpflichtend sein oder optional? Wie können die Studierenden ihre Vorerfahrungen am besten sichtbar machen? Regelmäßig beraten wir uns im  SCoRe-Verbund über solche Fragen, denn das Gestalten der Lern- und Forschungsplattform und der didaktischen Unterstützungsmaterialien auf Basis des bestehenden Forschungsstands, der vielfältigen Erfahrungshintergründe und Ideen steht in Mittelpunkt der wöchentlichen Termine mit allen fünf Teams des Verbundprojekts. Wie unterscheidet sich also die Arbeit des gesamten Forschungsverbunds von klassischen, zum Beispiel empirischen, Projekten?

Die Antwort liegt im gewählten Forschungsansatz für SCoRe: Design-Based Research (DBR). Das Gestalten bzw. das Design ist in DBR die Grundlage auch für die angestrebten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das SCoRe-Team zum forschenden Lernen gewinnen will. Um Erkenntnisse zur innovativen Student Crowd Research zu gewinnen, wird die Lern- und Forschungsplattform in mehreren prototypischen Umsetzungen in Lehrveranstaltungen erprobt und auf der Basis von laufenden theoretischen Arbeitsresultaten und Evaluationsergebnissen für die jeweils nächste Umsetzung angepasst.

Durch die Systematik der Zyklen von Gestaltung, Erprobung, Evaluation und Analyse sowie einer theoretischen Reflexion entstehen gleichzeitig eine zunehmend reifer werdende Plattform und mit dieser Plattform verknüpfte Forschungsergebnisse.

Von uns als Team erfordert das zyklische Vorgehen ein ständiges Generieren, Loslassen und Anpassen von eigenen Ideen ebenso wie von theoretischen Annahmen. Auch die Zusammenarbeit im Gesamtprojekt ist in der gemeinsamen Gestaltung sehr dynamisch: Wir, die Forscherinnen mit dem Schwerpunkt forschendes Lernen von der Universität Hamburg, arbeiten eng zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Teilprojekten, die sich inhaltlich mit Bildung für nachhaltige Entwicklung, Forschen und Lernen in der Crowd oder Video Learning befassen. Neben dem inhaltlichen Aufbau planen wir auch die technische Entwicklung, die durch Kolleginnen und Kollegen aus dem Teilprojekt Technologie umgesetzt wird. Dabei ist es herausfordernd, eine gemeinsame Sprache im interdisziplinären Team zu finden und kontinuierlich weiterzuentwickeln.

So verschieden wie die Perspektiven auf das Projekt und die prototypischen Umsetzungen sind auch die Methoden in allen Phasen, auch die in Phasen der Evaluation: Passend zu den jeweiligen Fragestellungen arbeiten wir mit Befragungen der Studierenden, aber auch mit einem ethnografischen Ansatz und statistischen Analysen zu den Studierenden-Aktivitäten auf der Plattform. Die verschiedenen Vorgehensweisen liefern Ergebnisse, die sich ergänzen und somit ein besseres Verständnis der Interaktion von Studierenden mit der Plattform ermöglichen, als es mit nur einer Methode möglich wäre.

Die Ergebnisse werden von uns nicht nur auf Tagungen vorgestellt und publiziert, wie es in der Wissenschaft üblich ist, sondern möglichst auch so aufbereitet, dass praktisch überprüft werden kann, ob sie – möglicherweise mit Anpassungen – auf ähnliche Ideen zum digitalen forschenden Lernen übertragen werden können. Beispielsweise haben wir festgestellt, dass ein Forschungszyklus nicht zu kleinschrittig vorgegeben werden sollte, damit Studierende sich Schritt für Schritt einen passenden Weg suchen können und die Forschungsphasen nicht chronologisch abarbeiten.