Mai: Digital, vielsprachig und im ÜbergangInternationale Vorbereitungsklassen in Zeiten der Pandemie
25. Mai 2021, von Bente Gießelmann
Foto: privat
Die „Internationalen Vorbereitungsklassen“ sollen neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern in einem Jahr die deutsche Sprache vermitteln. Das "Forschungsprojekt des Monats" im Mai untersucht den Übergang ins reguläre Schulsystem – und aktuell die Auswirkungen der Pandemie. Im Themenquartal "Migration und Mehrsprachigkeit" stellt Dr. Elisabeth Barakos im Gespräch die Forschung und die sie begleitenden Herausforderungen vor.
Frau Barakos, zunächst müssen Sie bitte „IVK“ kurz erklären: Was sind Internationale Vorbereitungsklassen, und warum wissen wir so wenig über sie?
Ja, sehr gerne. Internationale Vorbereitungsklassen, kurz „IVK“, sind Klassen für neu zugewanderte Schüler*innen aus dem Ausland (oft mit Fluchterfahrung), die zum ersten Mal in Deutschland eine Schule besuchen und deren deutsche Sprachkenntnisse (noch) nicht ausreichen, um die Regeklassen zu besuchen. Die IVKs sollen diesen Kindern und Jugendlichen den systematischen Deutscherwerb ermöglichen. Nach ca. 12 Monaten wechseln die Schüler*innen dann in die Regelklasse. Dieser Übergang ins Regelsystem gilt als besondere Herausforderung (also aus sprachlicher Sicht, aber auch aus sozialer Sicht) und wurde bisher kaum wissenschaftlich untersucht.
Ihre Forschung untersucht diesen Übergang von Internationalen Vorbereitungsklassen in Regelklassen. Worauf genau richten Sie dabei Ihren Blick, was wollen Sie herausfinden?
Uns interessiert besonders, wie Schulen in Hamburg ihre Sprachbildungsangebote für neu zugewanderte Schüler*innen an diesem Übergang gestalten. Folgende Fragen sind zentral für uns: Wie wird sprachliches und fachliches Lernen in der Sekundarstufe I verzahnt? Welche Erfahrungen machen die Schüler*innen damit? Welche Angebote können sie gewinnbringend in der IVK für sich nutzen? Wie können sie ihre Mehrsprachigkeit für sich nutzbar machen? Wo liegen die Herausforderungen für die Schule, die Lehrkräfte und die Kinder?
Der Übergang von Vorbereitungsklassen in Regelklassen ist also bisher noch wenig untersucht. Welche ersten Erkenntnisse haben Sie über die Struktur dieses Übergangs bereits gewonnen?
Erstmals stellen wir fest, dass die IVK ein besonderer Ort des Lernens und Lehrens ist. IVKs sind heterogen und mehrsprachig, mit dem hauptsächlichen Ziel, den Kindern so rasch wie möglich Deutschkenntnisse zu vermitteln. IVKs bedeuten aber noch viel mehr: Die Klasse ist oft eine Art „Schutzraum“ für Kinder, die erst kürzlich in Deutschland angekommen sind. Dort finden sie ihre neuen Freunde und kommen zum ersten Mal mit der Institution Schule in Deutschland, mit all ihren Regeln und Komplexitäten, in Berührung. Somit ist die IVK nicht nur ein Lernort sondern auch ein Raum der Sozialisierung, des „Aufgehoben-Seins“, der Rituale und der Sicherheit. Der Übergang in die Regelklasse gestaltet sich administrativ oft sehr komplex und kann nach zahlreichen formellen Anträgen von Seiten der Lehrkräfte oder der Schule nach hinten verschoben werden. Das haben wir auch an unserer Fallschule beobachtet. Die Kinder sind aufgrund der Pandemie noch nicht ausreichend auf einen Wechsel vorbereitet und weisen natürlich enorme Lerndefizite auf. Obwohl viele Schüler*innen noch nicht ihre notwendigen Deutschkenntnisse erreicht haben, müssen sie irgendwann dann aber trotzdem in die Regelklasse „nachrücken“.
Auch das Stichwort Bildungsgerechtigkeit ist in Ihrer Arbeit zentral. Wie zeigen sich in Ihrem Forschungsfeld Bildungsungleichheiten?
Ein zentrales Thema ist die Frage nach Infrastruktur, Ressourcen und strukturellen Ungleichheiten. Diese Aspekte haben wir aus den Daten heraus rekonstruiert und vor allem haben es die begleiteten Lehrkräfte immer wieder thematisiert. Unsere Studie zeigt, dass Kinder mit Migrations- und Fluchterfahrung in Lernchancen und Bildungszielen während der Corona-Pandemie besonders stark benachteiligt sind. Der Grund ist vor allem die Ressourcenknappheit der IVK. In Hamburg gibt es jetzt über den Schulsenat seit Herbst Laptops, die an Schulen verteilt werden, aber es mangelt an den Kenntnissen zur Bedienung und es fehlt das notwendige WLAN. Die Kinder müssen sich quasi an ein Bildungsmandat anpassen, das nicht mit ihren Lernbedürfnissen und sozialen Lebenswelten vereinbar ist. Außerdem werden IVKs in den politischen und medialen Debatten um Schulöffnungen selten mitbedacht.
Die Herausforderungen und Grenzen des (digitalen) Deutschunterrichts in einer IVK hebt unsere Studie ebenso deutlich hervor. Lehransätze müssen sich ständig an diverse (digitale) Medien anpassen und es besteht unter den Lehrkräften Konsens darüber, dass die Sprachaneignung und Entwicklung im Fernunterricht schwierig aufrechtzuerhalten sind. Vor allem für Sprachunterricht ist Präsenz zentral.
Sie haben vor allem die Lehrkräfte in den IVKs im letzten Jahr forschend begleitet: Wie blicken diese auf die Übergangsklassen, und wie hat sich ihre Perspektive über die Zeit der Pandemie geändert?
Wir sehen einen immensen Einsatz der IVK-Lehrkräfte bezüglich der Auswahl der Kommunikationsmittel, ein hohes Engagement sowie eine hohe Kreativität, und viel Team-Arbeit im IVK-Team. Wir haben ja seit März 2020 die verschiedenen Stadien der Schulöffnungen und -schließungen mitbegleiten dürfen (Schule auf/zu; Distanzunterricht; Hybridunterricht etc.) und wie sich die Perspektiven und Praktiken der Lehrkräfte verändert haben. Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 lag die Problematik vorwiegend auf der Kommunikation und dem Erreichen der Schüler*innen. Sie müssen sich vorstellen, dass viele IVK-Kinder keine ordentliche Infrastruktur zuhause haben (keine PCs/Laptops; kein Internetzugang), oder sich oft ein Telefon unter Geschwistern teilen müssen. Zudem fehlten die digitalen Kompetenzen: Wie steige ich ins Internet ein, wie kann ich ein Dokument öffnen oder hochladen, etc.? Man darf auch nicht vergessen, dass die Lehrkräfte keine IT-Fachkräfte sind, die sich mit den verschiedenen Apps, Betriebssystemen und Geräten auskennen oder aus der Ferne bei (Verständnis-) Problemen helfen können. Die mangelnden Deutschkenntnisse verschärfen dann noch die Kommunikation auf Distanz. Im zweiten Lockdown im Winter 2020/21 ging’s dann vor allem um die Frage, wie Unterricht aus der Ferne optimiert werden kann, um möglichst viele Kinder zu erreichen, motiviert zu halten und ihre Lese-, Hör-, Schreib- und Sprechfähigkeiten auszubauen. Viele Kinder haben sich an den Distanz-Unterricht gewöhnt und die Lehrer*innen haben für sich Arbeitsweisen gefunden, die für sie und die Kinder funktionieren – und funktionieren müssen.
Sie haben überwiegend während der pandemiebedingten Schulschließungen geforscht. Wie mussten Sie Ihre gesamte Forschung an die veränderte Situation anpassen?
Unsere Datenerhebung hätte im März 2020 mit Methoden der ethnographischen Forschung starten sollen, das heißt mit teilnehmender Beobachtung in den Schulklassen, informellen Gesprächen mit Schüler*innen sowie qualitativen Interviews. Dann kam Corona und wir mussten aufgrund der Schulschließungen von einem Tag auf den anderen unsere Methoden in eine virtuelle Ethnographie überführen. Das war wirklich herausfordernd. Wie sollten wir nun unter distanzierten Bedingungen Daten erheben? Was passiert mit unseren ursprünglichen Forschungsfragen? Die Pandemie hat uns die Grenzen der klassischen Ethnographie aufgezeigt. Wenn wir schon nicht vor Ort forschen können, dann eben virtuell. Die Forschung ist sehr kurzfristig, eingeschränkt und muss sich ständig an die neuen Gegebenheiten anpassen. Wir nehmen also andere Räume der Kommunikation mit unseren Forschungspartner*innen und digitale Wege der Datenerhebung und -auswertung in Anspruch – wie z. B. Zoom-Interviews, Email, Telefonate, aber auch digitale Datenbesprechungen im Projektteam.
Das Forschungsprojekt läuft aktuell noch. Was erhoffen Sie sich von den kommenden Monaten?
Erst einmal, dass wir alle gesund durch diese Pandemie kommen. Und aus Forschungssicht natürlich, dass wir wieder zurück an die Schulen gehen können, sobald es sicher und möglich ist. Die digitale Ethnographie hat einfach auch ihre Grenzen, vor allem was den Kontakt mit Fall-Kindern für die Forschung betrifft. Wir würden uns auch wünschen, dass IVK-Klassen bei der Schulöffnung priorisiert würden. Das ist notwendig, um den sozial und sprachlich benachteiligten Kindern eine Chance auf Bildungsfortschritt und -erfolg zu geben, da dieser auch maßgeblich den Übergang in Regelklassen betrifft.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weiterführende Informationen
Mehr Informationen zum Forschungsprojekt "Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I - Eine qualitative Studie über sprachliche Bildung am Übergang von Vorbereitungsklassen zu Regelklassen" finden Sie hier.
Das Projektteam besteht aus Prof. Dr. Sara Fürstenau, Dr. Elisabeth Barakos und Simone Plöger. Das Vorhaben läuft vom 1.1.2020 bis 31.12.2022 und wird von der DFG gefördert.