I. Grundlagentheoretischer Zugang
Ausgangslage:
Gesellschaftsanalysen zeigen, dass aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu einer enormen Zunahme von Ungewissheit(en) führen:
- das Verschwinden der großen Erzählungen,
- der rasante technologische Wandel,
- die existenzielle Dimension der daraus entstehenden Risiken wie z.B. der Kernkraft oder des Klimawandels,
- verstärkte Migration,
- die Auflösung traditioneller Identitätspositionen.
Die damit einhergehende Ungewissheit ist für Individuum und Gesellschaft eine existenzielle Herausforderung. Die reflexartige Hinwendung zu einfachen Lösungen (wie sie populistische Positionen formulieren) stellt grundlegende Errungenschaften wie Gleichberechtigung oder das Primat politischer Lösungen und damit auch Demokratien westlicher Prägung in Frage. Verschärft wird diese Problemlage dadurch, dass die Digitalisierung des Wissens dessen Struktur und den Umgang damit tiefgreifend verändert. Wissen, seine Produktion und seine gesellschaftliche Funktion (Stichworte hier: social media, „Lügenpresse“, kollaborative Wissensproduktion) bewegen sich zwischen fluider Diskursivität, Postfaktizität und Scheingewissheit. Damit erzeugen sie erhebliche Ungewissheit in bislang vermeintlich stabilen Strukturen gesellschaftlicher Wissensproduktion und -nutzung.
Erkenntnisinteresse:
Das Erkenntnisinteresse richtet sich daher auf bildungstheoretische Grundlagenforschung im Sinne postindustrieller Gesellschaftsanalysen aus systemischer Perspektive. Zu betrachtende Phänomene sind z.B.
- agonale Demokratietheorie („leere Diskursarenen“),
- nicht-beabsichtigte Handlungsfolgen in komplexen sozialen Systemen,
- contra-intuitive Einsichten, und
- Demokratien als lernende Systeme im Umgang mit dieser prinzipiellen Zukunftsoffenheit und Ungewissheit.
In Bezug auf das Bildungssystem sind außerdem Vermittlungsprozesse zwischen den Systemebenen, z.B. verstanden als Rekontextualisierung, relevant (vgl. auch Forschungsfeld IV).
Fragestellung:
- Welche Rolle spielen Ungewissheit und verwandte Phänomene, wie z.B. Kontingenz, in den Teilsystemen (z.B. Politik- und Bildungssystem) postindustrieller Gesellschaften?
- Wie wirkt sich dies auf für Pädagogik relevante Aspekte wie z.B. die Produktion, Vermittlung und Aneignung von Wissen aus?
- Welche Funktion kommt Bildungseinrichtungen, insbesondere der Schule, dabei zu?
Personen:
- Prof. Dr. Andrea Liesner (Erziehungs- und bildungswissenschaftliche Grundlagenforschung)
- Prof. Dr. Tilman Grammes (Didaktik der Sozialwissenschaften)