Musikalische Bildung als bürgerliches Projekt
Musikalische Bildung als bürgerliches Projekt - Geschichte und aktuelle Transformationen
Der Begriff der musikalischen Bildung erlebt seit den 1990er Jahren eine erkennbare Renaissance. Schon aus theoriestrategischen Gründen musste der Bildungsbegriff allerdings von seinen klassengebundenen Hypotheken befreit werden, der ihn seit den 1960er Jahren suspekt werden ließ. Vor allem die Koppelung „Bildung“ und „Bürger“ sollte dabei aufgelöst werden, was allerdings schon aufgrund soziologischer Befunde ohnehin nahelag: Das sog. „Bildungsbürgertum“ galt als marginalisiert oder sogar völlig verschwunden. Das Ergebnis dieses Loslösungsprozesses ist bis heute ein ganz individualisierter und formaler Begriff musikalischer Bildung, der auch für musikpädagogische Anschlüsse im Sinne von „Bildung für alle“ problemlos adaptierbar erscheint. Historisch gesehen ist (musikalische) Bildung allerdings ein zutiefst bürgerliches Projekt, das aufs Engste mit Bürgerlichkeit als Lebensform verknüpft ist. So gesehen könnte nicht nur bildungspolitisch, sondern auch soziologisch argumentiert werden, dass mit dem Verschwinden des alten Bürgertums in der sog. „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) nach 1945 sich auch der Bildungsbegriff erübrigt hat. Dagegen spricht allerdings der in Geschichts- und Politikwissenschaft diskutierte Befund, dass die deutsche Gesellschaft immer noch als „bürgerliche Gesellschaft“ beschreibbar ist. Zudem erlebt „Bürgerlichkeit“ als Kategorie eine erstaunliche Renaissance, verbunden mit Versuchen, postmoderne Subjektivierungsformen als Transformationen „moderner“ Bürgerlichkeit zu beschreiben. Und nicht zuletzt wird Bürgerlichkeit als Lebensform wieder zum Distinktionsmerkmal, wenn in der „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey) scheinbar gesicherte Klassenlagen wieder zur Disposition stehen.
Es kann also keine Rede davon sein, dass musikalische Bildung nicht mehr als „bürgerliche“ Bildung zu beschreiben ist; die Frage ist nur, was momentan als „bürgerlich“ zu gelten hat und wie „Bildung“ unter diesen Bedingungen zu verstehen ist. Die weit verzweigten Diskussionen über alte und neue Bürgerlichkeit spiegeln sich im musikpädagogischen Diskurs der Gegenwart allerdings in keiner Weise. Vor allem der Rückzug auf je individuell zu erwerbende musikalische Kompetenzen kann hier als Symptom für eine „Ent-Soziologisierung“ (und damit auch Entpolitisierung) der Disziplin gelesen werden, die ihre gesellschaftliche Verortung kaum noch reflektiert. Ziel des Vorhabens ist es daher insgesamt, die musikalische Bildungstheorie wieder stärker zu soziologisieren, und zugleich die (musik)soziologische Theorie durch bildungstheoretische Überlegungen anzureichern.
Durchführung: Prof. Dr. Jürgen Vogt
Finanzierung. Eigenmittel
Dauer: offen