Junge Forschung: Welche Rolle spielen Freundschaften für die Entwicklung mehrsprachiger Fähigkeiten?Nora Dünkel im Gespräch
17. Dezember 2024
Foto: privat
Der Familienkontext ist wichtig für den Spracherwerb und die Entwicklung mehrsprachiger Kompetenzen. Aber welche Rolle spielen eigentlich Freundschaften von Jugendlichen für den deutschen und herkunftssprachlichen Spracherwerb, und welche Sprachen werden in Freundschaften gesprochen? Nora Dünkel hat die Daten einer Studie zur Spracherwerbsentwicklung analysiert und gibt im Gespräch Einschätzungen auf Grundlage ihrer Forschungsergebnisse.
Zur Reihe „Junge Forschung“
Woran arbeiten eigentlich junge Erziehungswissenschaftler:innen? Und wo können sie aus ihrer Forschungsarbeit interessante Impulse für die Praxis einbringen? In einer neuen Reihe stellen wir junge Forschende aus unserer Fakultät und ihre Arbeit vor - und zwar im Interview mit unserem Leiter der Graduiertenschule, Dr. Markus Friederici.
Worum geht es in deiner Arbeit?
In meiner Dissertation setze ich mich mit der Rolle von Freundschaften als Sprachgebrauchs- und Spracherwerbskontexte und deren Bedeutung für die sprachlichen Fähigkeiten lebensweltlich mehrsprachiger Jugendlicher auseinander. Das Erlernen und Anwenden von sprachlichen Fähigkeiten ist in großem Maße abhängig davon, welche Gelegenheiten das soziale Umfeld dafür bietet. Der Fokus bisheriger Forschung liegt jedoch in der Regel auf der Untersuchung des Einflusses der familialen sprachlichen Sozialisation und der Sprachentwicklung in der Majoritätssprache – meist im Kindesalter. Um diese Lücke zu schließen, stützen sich meine Untersuchungen auf Daten des Forschungsprojekts „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf“, in dem Jugendlichen mit deutsch-türkischem und deutsch-russischem Sprachhintergrund untersucht wurden. Dabei liegen Daten zu ihren sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen und ihrer Herkunftssprache ebenso vor wie Angaben zur Eingebundenheit in inter- und intraethische Freundschaften und dem Sprachgebrauch mit ihren Peers.
Welche Ergebnisse hast du erhalten?
Zunächst einmal wird deutlich, dass die Nutzung des Deutschen eine prominente Rolle spielt – und zwar auch unter Jugendlichen mit geteiltem herkunftssprachlichem Hintergrund. Zugleich zeigt sich, dass die Herkunftssprache nicht nur in den Familien über Generationen hinweg einen lebendigen Bestandteil des Alltags bildet, sondern auch in der Kommunikation mit den Gleichaltrigen Anwendung findet. Die Gelegenheiten zur Nutzung der Sprachen stehen in signifikantem Zusammenhang mit den von den Jugendlichen erreichten Leseverständnis-leistungen im Deutschen und der Herkunftssprache: Hohe Kompetenzen in beiden Sprachen erzielten etwa Jugendliche, die mit ihren Eltern überwiegend in der Herkunftssprache kommunizieren und in enge Freundschaften mit sowohl monolingual deutschen als auch herkunftssprachlichen Peers eingebunden sind. Ausgeprägt intraethnische Freundschafts-netzwerke sind dagegen mit geringeren Leseleistungen im Deutschen assoziiert. Gelegenheiten zur Verwendung des Deutschen außerhalb der Familie und Freundschaften zu Peers mit deutschem Sprachhintergrund sind wichtige Lern- und Anwendungsgelegenheiten für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Verwendung der Herkunftssprache ist aber nicht per se ein Risikofaktor für Bildungserfolg. Vielmehr ist sie eine Voraussetzung für den Erhalt herkunftssprachlicher Fähigkeiten und mit hohen Kompetenzen im Deutschen vereinbar.
Welche Relevanz haben deine Ergebnisse für konkrete Praxisfelder?
Die untersuchten Jugendlichen verfügen über ein großes Repertoire sprachlicher Fähigkeiten. Obwohl ihre Herkunftssprachen in der Schule häufig kaum Anerkennung finden und die wenigsten von ihnen herkunftssprachlichen Unterricht hatten, gelingt es vielen Jugendlichen, sich den Inhalt komplexer Texte im Türkischen und Russischen zu erschließen. Hierin liegt eine bisher noch wenig genutzte Ressource. Noch immer wird die Nutzung einer anderen als der Majoritätssprache im Alltag als Hindernis für den Bildungserfolg diskutiert und mitunter in Schulen sanktioniert. Die Befunde meiner Arbeit und die anderer Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass erfolgreiche Entwicklungen in beiden Sprachen möglich sind und sich durchaus positiv beeinflussen und gemeinsam zum Bildungserfolg beitragen können. Eine stärker auf die Ressourcen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit orientierte Praxis im Lehren und Lernen wäre entsprechend zu begrüßen. Dabei stellt sich die Frage, wie es am besten gelingen kann, in sprachlich heterogenen Klassenkontexten, wie wir sie inzwischen an den meisten Schulen vorfinden, die herkunftssprachlichen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen als Ressource zu nutzen. Dieser versuchen wir derzeit im Rahmen eines Systematic Reviews zum Einbezug von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in Kita und Schule weiter auf den Grund zu gehen.
Immer wieder kontrovers diskutiert wird außerdem, wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund in Gruppen mit Peers derselben Herkunftssprache eingebunden sind. Eine Präferenz für das Eingehen von Freundschaften mit Personen mit ähnlichem sprachlich-kulturellem Hintergrund ist aber ebenso bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verbreitet. Interethnische Freundschaften tragen zur gesellschaftlichen Kohäsion bei. Diese können gefördert werden durch Lernarrangements, die die kooperative und konstruktive Zusammenarbeit über sprachlich-kulturelle Hintergründe der Schüler:innen hinweg ermöglichen.
Gibt es eine Quintessenz deiner Arbeit?
Peerbeziehungen bieten wichtige Lern- und Erfahrungskontexte und gewinnen im Jugendalter immer mehr an Bedeutung. Soziale Interaktionen und sprachliche Lern- und Entwicklungsprozesse sind eng miteinander verbunden. Dabei scheinen Jugendliche mit Migrationshintergrund von Freundschaften mit sowohl herkunftssprachlichen als auch monolingual deutschen Peers in ihrer Mehrsprachigkeitsentwicklung zu profitieren. Dass sich diese informellen Lern- und Anwendungsgelegenheiten auch in den für Bildungserfolg so wichtigen schriftsprachlichen Fähigkeiten der Jugendlichen niederschlagen, spricht dafür, dass in zukünftiger Forschung der Rolle von Peerbeziehungen für schulisches und sprachliches Lernen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.
Was können Schulen und Lehrkräfte tun?
In der Schule kommen Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Hintergründen in Kontakt. Für das Lernen von und mit den Peers ist ein gutes Klassenklima von Bedeutung. Das erfordert, die sozialen Beziehungen innerhalb der Klasse im Blick zu behalten, die sprachlichen Repertoires der Kinder und Jugendlichen zu kennen und zu wertschätzen und bei der Gestaltung des Unterrichts kooperative Beziehungen unter den Schüler:innen zu stärken. Für den Einbezug der Mehrsprachigkeit gibt es viele gute Konzepte, wie die sprachlichen Repertoires der Schüler:innen sichtbar und für das fachliche Lernen genutzt werden können. Von Verboten der Nutzung von Herkunftssprachen halte ich nichts. Diese sind schädlich für die individuelle Entwicklung ebenso wie für das soziale Miteinander.
Danke für das Gespräch.
Zur Person
Nora Dünkel arbeitet im Bereich Interkulturelle und International vergleichende Erziehungswissenschaft. Sie hat im September 2024 erfolgreich ihre Promotion zum Thema „Peerbeziehungen und die sprachlichen Fähigkeiten lebensweltlich mehrsprachiger Jugendlicher“ abgeschlossen. Seit 2022 ist sie Mitarbeiterin im Projekt "Metavorhaben – Sprachliche Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Peerbeziehungen, (sprachliche) Diversität und Bildungserfolg und Mehrsprachigkeit.