Nachruf zum Tode von Prof. Dr. Hermann Lange
27. September 2023
Foto: UHH/EW
Am 30. August 2023 starb Hermann Lange im Alter von 94 Jahren in Ahrensburg. Von 1970 bis 1994 bekleidete er die ordentliche Professur für „Erziehungswissenschaft – Berufspädagogik“ in der jetzigen Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Auch als Emeritus bot er noch jahrelang regelmäßig Lehrveranstaltungen an, blieb den wechselnden Institutsleitungen mit seinen wertvollen Erfahrungen zurückhaltend Rat gebend verbunden und besuchte mit seiner Frau bis ins hohe Alter regelmäßig die Jahresfeiern des Alumni-Clubs des Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Besuch des Bucerius Kunstforums in Hamburg.
Hermann Lange wurde am 7. Mai 1929 in Beckedorf in der Südheide geboren, besuchte dort vier Jahre lang die kleine Dorfschule mit zwei Unterrichtsräumen, aber nur einem Lehrer, daran anschließend die Mittelschule im nahen Hermannsburg um dann auf die Oberrealschule in der Kreisstadt Celle, das spätere Hermann-Billung-Gymnasium zu wechseln. Diese frühen Erfahrungen verweisen bereits auf Motive, die für seine wissenschaftliche Arbeit zentral wurden. Da war zum einen seine Bereitschaft, sich mit intensiver Beharrlichkeit auch selbst Bildungserfahrungen zu erarbeiten. Zum anderen drängten die vom Krieg geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der Kontrast zwischen den Sozialräumen des kleinen, von Landwirtschaft und ländlichem Handwerk geprägten Heidedorfes und der alten herzoglichen Residenzstadt Celle mit Schloss, hohen Gerichten und Landgestüt zu Betrachtungen über gesellschaftliche Differenzierungen und dem, was Gesellschaften zusammenhält und sie bewegt. In diesem letztlich politischen Zusammenhang verortete Hermann Lange die zentrale Aufgabe der Pädagogik.
Nach dem Abitur erlernte er den Beruf des Zimmerers, darin einer familiären Tradition folgend. Neben den handwerklichen Anforderungen an die Qualität der Produkte waren es die kognitiven Herausforderungen der Arbeit, wenn es z. B. um das „Schiften“ beim Bau von verwinkelten Dachstühlen, Dachgauben oder gewendelten Treppen ging, auf die Hermann Lange mit einigem Stolz hinwies. Eine Schweizer Längsschnittstudie zu „Berufsausbildung und Persönlichkeitsentwicklung“ (Häfeli u. a., 1988) bestätigte sein Urteil, indem sie nachwies, dass nur die Zimmerer-Lehrlinge ihre kognitiven Fähigkeiten im Bereich logischen Denkens und der räumlichen Vorstellung in der Lehre deutlich verbesserten, nicht aber die Lehrlinge aus Banken und einer Vielzahl anderer Berufe. Der Zimmererberuf verkörperte in der damaligen Zeit auf dem Lande noch viele Merkmale der traditionellen Handwerksarbeit: So wurden die kaum standardisierten Produkte nicht für einen anonymen Markt hergestellt, sondern i. d. R. für persönlich bekannte Kunden. Mit ihnen zusammen wurde das Produkt geplant und kalkuliert und auch ihnen gegenüber musste man seine Arbeit persönlich verantworten. Ganz selbstverständlich waren die sozialen Beziehungen zwischen Kunden, Kollegen, formal oder informell Vorgesetzten auch wichtiger Gegenstand der Berufsbildung. Unter den entfremdenden Bedingungen moderner Produktionsverhältnisse sind die Beziehungen und Verantwortlichkeiten nicht mehr so offen greifbar, aber sie bleiben zentrale Elemente beruflicher Praxis – und damit Aufgegebenheiten (im Sinne V. Frankls) der Berufspädagogik. Vielleicht haben den Heranwachsenden gerade die Abgeschiedenheit des Südheidedorfes und die persönliche Konfrontation mit unterschiedlichen sozialen Milieus, Lebensentwürfen und Wertvorstellungen sehr früh schon zu seiner „politischen“ Auffassung von Pädagogik geführt. Einen weiteren Bildungsimpuls setzten die Kontakte mit der nur wenige Kilometer entfernt angesiedelten, eng mit der Bevölkerung verbundenen „Hermannsburger Mission“. Sie ermöglichten Begegnungen mit Dozenten, Missionaren sowie Menschen aus den Missionsgebieten in Afrika und Südostasien. Hermann Langes Muttersprache war Plattdeutsch, Hochdeutsch lernte er erst durch Schule und Kirche, wobei insbesondere die letztere in ihren Differenzierungen und Konflikten schon früh Anregungen für seinen eigenen Bildungsprozess bot.
Nach der Lehre und einem Gesellenjahr absolvierte er an der Universität Hamburg ein Studium für das Berufsschullehramt mit der Fachrichtung Bau- und Holztechnik und den Fächern Erziehungswissenschaft, Deutsch, Geschichte und Politik. Wichtige akademische Lehrer waren der geisteswissenschaftliche Pädagoge Wilhelm Flitner, der österreichische Sozialhistoriker Otto Brunner, der ebenfalls aus der kuk-Monarchie stammende Staatsrechtler Rudolf Laun und der Entdecker und Herausgeber der Marxschen Frühschriften Siegfried Landshut, der im Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste. Sie waren alle in ihren Disziplinen hervorragende Wissenschaftler, die in ihren jeweiligen Biographien, wissenschaftlichen Grundpositionen und Methoden ein weites Spektrum überspannten. Als reflektierter Hermeneutiker hat Hermann Lange immer wieder auf deren Arbeiten präzise differenzierend-verstehend Bezug genommen. Gleich mit seiner Dissertation machte er deutlich, welchen Ertrag er aus den Arbeiten seiner akademischen Lehrer zog. Ihr Titel zeigt bereits die überraschende, fast verwegene thematische Spannweite seiner Untersuchung an: „Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens.“ (1967 bei Beltz erschienen.) Sie ist auch im Umfang und im Reichtum der akribisch erschlossenen Quellen das „opus magnum“, das in vielen Bibliotheken mehrerer Kontinente Eingang fand! Offenbar wurde es in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit der stärkeren gegenseitigen Öffnung von Architektur und Pädagogik wieder mehr rezipiert.
Seine eigene wissenschaftliche Entwicklung erläuterte er u. a. 1994 in seinem Aufsatz „Von Wilhelm Flitner zu Niklas Luhmann.“ H. E. Tenorth würdigte in seinem Festvortrag (1995) zu Hermann Langes Emeritierung dessen theoretische Position als „erstaunlich“, wobei diese Charakterisierung hohe Anerkennung ausdrückte, gepaart mit kritischen Fragen - die Lange geradezu begeistert als Auftakt zu einem angeregten Diskurs aufgriff: Er fühlte sich in seinen theoretischen Grundanliegen – endlich – adäquat verstanden und herausgefordert.
Tenorth zog aus seiner kritischen Textanalyse für die Erziehungswissenschaft drei Lehren:
- „Wissenschaftstheoretisch – dass die pädagogische Denkform sich modernisieren muss, um Geisteswissenschaft, d. h. pädagogische Reflexion, in legitimer Weise bleiben zu können;
- Politisch – dass Erziehung nur in der paradoxen Situation beginnen kann, dass sie Gesellschaft als politische Struktur anerkennt, um Individuen zu ihrer Verbesserung fähig zu machen;
- Pädagogisch – dass nicht eine szientifisch oder politisch ambitionierte Profession, sondern erst eine sozialisierende Institution möglich macht, was Erziehung bedeutet und Emanzipation sein kann – Emanzipation durch Vergesellschaftung.“
Hier zeigt sich, dass die Überlegungen Langes in ihrer Kritik fundamentaler ansetzen als die „kritischen Erziehungswissenschaftler“, die viele Jahre die Disziplin öffentlich repräsentierten. Deren Kritik folgte entgegen den Selbstinterpretationen der Autoren oft einem technischen Interesse, das gerade nicht mit der reklamierten Emanzipation vereinbar war. Die Auseinandersetzungen um grundlegende theoretische Positionen hatten in den 1970er Jahren in Hamburg ihren Höhepunkt. Als langjähriges Mitglied, in den Jahren 1974-1976 als Sprecher des Fachbereichs Erziehungswissenschaft war Hermann Lange in die damaligen massiven politischen Auseinandersetzungen oft bis in die Nachtstunden involviert. Argumentativ war er schon durch sein Studium bei dem Marx-Experten Landshut seinen Gegnern überlegen, die Marx in der Regel nur aus Traktätchen kannten. Argumente zählten in dieser Zeit jedoch kaum. Zur Struktur des Fachbereichs waren zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen. Hermann Lange leistete hier u. a. mit der von ihm entwickelten Methode zur transparenten Ermittlung des Personalbedarfs einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um die Ressourcenverteilung im Fachbereich, aber auch gegenüber der Universitätsverwaltung.
In der Lehre war er anspruchsvoll und für manche Studierende war seine Denkweise nicht leicht zugänglich. Aber weil er immer bereit war, interessierte Studierende zu unterstützen, erinnerten sich Absolventen gern an ihn und blieben ihm jahrelang verbunden. Geradezu legendär wurden seine umfangreichen handschriftlichen Anmerkungen in studentischen Texten, die den Studierenden zeigten, wie intensiv sich Hermann Lange damit beschäftigt hatte. In dessen Kritik erkannten sie gleichzeitig seine Wertschätzung ihrer Arbeit und die Bedeutung thematischer Zusammenhänge.
Ein besonderes Interesse galt dem internationalen Austausch mit Fachkolleginnen und -kollegen. Auf seine Initiative gab es ein nachhaltig von ihm betreutes zwanzigjähriges Austauschprogramm mit dem Jordanhill College of Education in Glasgow, das später in die Strathclyde University integriert wurde. Internationale Konferenzen gab es mit seiner Beteiligung mit wissenschaftlichen Einrichtungen in Schweden, Finnland, USA, Österreich und England. Es war beeindruckend, wie schnell er immer wieder Zugang zu den ausländischen Kollegen und Kolleginnen fand und wie er oft zum Zentrum eines fruchtbaren Austauschs wurde. Seine Offenheit, sein echtes Interesse und seine humorvolle, zugewandte Persönlichkeit waren eine verlässliche Basis für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Mit seiner breiten, historisch fundierten Bildung zeigte er oft, wie historisches Wissen einen sehr lebendigen, fruchtbaren Zugang zu Kulturen in ihren gegenwärtigen Differenzierungen schaffen kann.
Wir empfinden Trauer über den Verlust eines inspirierenden, zugewandten und verlässlichen Kollegen, der mit den von H. E. Tenorth identifizierten gewichtigen „Lehren“ unserer Disziplin Aufgaben hinterlassen hat, die ohne ihn selbst nur schwer in Angriff zu nehmen sein werden.
Prof. Dr. Willi Brand, Professor für Wirtschaftspädagogik im Ruhestand