Nachruf auf Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich BleidickDie Fakultät für Erziehungswissenschaft trauert um Ulrich Bleidick
23. Januar 2023
Foto: UHH/EW
Ulrich Bleidick, geboren am 3. April 1930 in Bonn, ist am 28. Dezember 2022 im Alter von 92 Jahren in Hamburg gestorben. Er vertrat an der Universität Hamburg unter unterschiedlichen, vorauslaufenden Strukturen der jetzigen Fakultät für Erziehungswissenschaft von 1969 bis 1995 die „Allgemeine Behindertenpädagogik“. Sein Leben und Wirken waren geprägt von bildungspolitischer Verantwortung und ethischer Verpflichtung zur Verbesserung von Lebenslagen behinderter und benachteiligter Menschen und zur Herstellung einer besseren Teilhabe angesichts erschwerter Lernprozesse in einer demokratischen Gesellschaft.
Ulrich Bleidick war der Begründer einer erziehungswissenschaftlich, kritisch-rationalen Pädagogik bei Behinderung in Deutschland. Er gilt bis heute als einer der einflussreichsten Vertreter und vor allem Modernisierer des Faches, der einer wissenschaftlichen Pädagogik erschwerter Lern- und Bildungsprozesse weit über Hamburg hinaus Geltung verschaffte. Mit seiner 1972 erschienenen „Pädagogik der Behinderten“ hat er das Programm einer Wissenschaft als kritische Haltung vorgelegt, die sich gegen absolute Wahrheitskriterien ebenso wendete wie gegen Relativismus, Subjektivismus und die Vermischung wissenschaftlicher Aussagen mit politischen oder ideologisch motivierten Forderungen. Die wissenschaftstheoretischen Begründungen seiner ‚Pädagogik der Behinderten‘ fußten auf einer umfassenden Aufarbeitung der Geschichte des Faches, der historischen Theorien der Behinderung und der normativen und defizitären Auffassungen über Bildungsfähigkeit und -unfähigkeit.
Seine Konzeption von erschwerten Lernprozessen und erschwerter Teilhabe an Bildung als dem Gegenstand einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin stand am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn konträr zu den damals in der Fachdisziplin vertretenen, vornehmlich schädigungsorientierten Standpunkten. Das wird schon in einer Publikation von 1966 unter dem Titel „Lesen und Lesenlernen unter erschwerten Bedingungen“ und seinen frühen Arbeiten zur sozialen Herkunft und zu sozialen Problemlagen der ‚Hilfsschüler‘ deutlich. Auf diesem Hintergrund schließt sich nahtlos seine Mitwirkung an den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates von 1973 an, in denen sich aus dem Verständnis von Behinderung als erschwerter Teilhabe konsequent das Ziel der Integration nicht nur im schulischen Bereich, sondern unter einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive in allen Lebensbereichen ergab. Diesem Motiv folgend sah er, wie in einem in der Spiegel Ausgabe 13, 1980 veröffentlichten Interview „Schon als Kind ein geschlagener Mensch“ zu lesen ist, die Aufgabe der Entwicklung des Bildungssystems darin, die allgemeine Schule so auszulegen, dass sie die Entstehung einer „relativen Behinderung“ verhindern kann. Dazu forderte er eine „eminente Ausweitung sondererzieherischer Bemühungen“ - nur eben an der allgemeinen Schule. Ein „integriertes System“ der Förderung etwa in Schulzentren sei allerdings, mahnt Bleidick damals, „entscheidend abhängig von vorher und zugleich geschaffenen Voraussetzungen, ohne die es nach wie vor separate Sonderschulen geben“ müsse.
Dieses noch heute modern anmutende Interview belegt, dass Ulrich Bleidick ein kritischer, aber wohlwollender Begleiter der Integration war, der jenseits der ideologischen Forderungen die Chancen und Grenzen aufzeigte, in den Diskurs überführte und sich kontinuierlich und breit in bildungs- und sozialpolitische Auseinandersetzungen, in die Verbands- und Gremienarbeit einbrachte. Ebenso nahtlos fügt sich in dieses Bild die Verpflichtung ein, eine erziehungswissenschaftliche und an der Teilhabe an Bildung ausgerichtete Lehrerbildung voranzubringen. Seine professionstheoretisch und –praktisch ausgerichteten Publikationen (z.B. ‚Lehrer für Behinderte‘ zusammen mit Sieglind Ellger-Rüttgardt von 1978) und professionsbezogenen Aktivitäten haben eine nachhaltige Wirkung entfaltet und führten in Hamburg zu einer erziehungswissenschaftlichen Verankerung der sonderpädagogischen Lehrerbildung, wie sie so breit und explizit kaum an einer anderen sonderpädagogischen Studienstätte zu finden ist. Dass er herausragende und weit verbreitete Lehr- und Handbücher noch weit nach Eintritt in seinen Ruhestand verfasste oder herausgab, bezeugt sein beeindruckendes Engagement für die Lehre und die Weiterentwicklung der erziehungswissenschaftlich fundierten Behindertenpädagogik. Bemerkenswert ist die Nachhaltigkeit seines Werks. Viele seiner Veröffentlichungen sind bis heute Gegenstand der universitären Lehre und der aktuellen Fachdiskurse. Diese Lebensleistung veranlasste die Universität München, Ulrich Bleidick die Ehrendoktorwürde zu verleihen.
Während seiner Hochschullehrertätigkeit war Ulrich Bleidick in unterschiedlichen Funktionen ein aktives und angesehenes Mitglied der akademischen Selbstverwaltung. Mit seinen Kolleginnen und Kollegen verfolgte er die Strategie des Ausbaus einer differenzierten Struktur sonderpädagogischer Lehr- und Forschungsstrukturen, mit dem Erfolg, dass in Hamburg alle in der KMK-Empfehlung von 1972 konzipierten neun sonderpädagogischen Fachrichtungen angeboten wurden. Sein besonderes Interesse galt der strukturellen Verankerung der fachrichtungsübergreifenden, erziehungswissenschaftlichen, sonderpädagogischen und psychologischen Inhalte im Sinne seiner visionären Vorstellungen zur Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems. Obwohl sich die Organisationsstrukturen der behindertenpädagogischen Lehre und Forschung in Hamburg verändert haben, tragen sie noch immer die Handschrift auch von Ulrich Bleidick.
Viele Kolleginnen und Kollegen, die ihm begegnet sind und mit ihm zusammengearbeitet haben, hatten bis zu seinem Tod noch immer fachlichen und privaten Kontakt und sind bis heute von seinem wissenschaftlichen Werk und seinen herausragenden Qualitäten im offenen, wertschätzenden persönlichen Umgang beeindruckt. Sein hohes Maß an Respekt vor den Anderen, sein belesenes Literatur- und Geschichtsbewusstsein, sein sicheres, moralisch-ethisch fundiertes Urteilsvermögen und seine sprachliche Kompetenz, aber auch seine Reiselust und Genussfreude wird ihnen in Erinnerung bleiben.
Die Fakultät wird dem inspirierenden Wissenschaftler, beliebten akademischen Lehrer und hochgeschätzen Kollegen ein ehrendes Andenken bewahren.
Prof. Dr. Eva Arnold, Dekanin
Prof. Dr. Iris Beck und Prof. Dr. (i. R.) Karl Dieter Schuck für den Arbeitsbereich Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung