Mehrfach erschwerte TeilhabeLeben mit Behinderung in der Corona-KriseEin Interview mit Prof. Dr. Iris Beck
12. Mai 2020, von Bente Gießelmann
Foto: Ahmad Ardity/pixabay
Ein Virus trifft auf den ersten Blick alle Menschen gleich – auf den zweiten Blick wird es jedoch deutlich komplizierter. Inwiefern Menschen mit Behinderungen in mehrfacher Hinsicht besonders von Covid-19 betroffen sind und welche Fragen sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ergeben, beantwortet Prof. Dr. Iris Beck. Sie ist Professorin für Allgemeine Behindertenpädagogik und Soziologie und forscht zur Umsetzung von Inklusion und Partizipation sowie zu Lebenslagen und Lebensbewältigung von Menschen mit Behinderungen.
Frau Beck, inwiefern sind Menschen mit Behinderungen vom Infektionsrisiko mit Covid-19 besonders betroffen?
In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit längerfristigen und umfänglichen Beeinträchtigungen ihrer Aktivitäten und Teilhabe. Sie unterscheiden sich mit Blick auf ihre Lebenssituationen, Alter, Geschlecht, soziale oder ethnische Herkunft sowie Art und Umfang der Beeinträchtigungen. Viele von ihnen leisten einen Beitrag zur Bewältigung der Krise. Weder ist Behinderung mit Krankheit gleichzusetzen noch bringt sie automatisch ein besonderes Gesundheitsrisiko oder einen Pflegebedarf mit sich. Aber wie in der Bevölkerung insgesamt, können mit einer Behinderung gesundheitliche Probleme und Einschränkungen einhergehen sowie Vorerkrankungen bestehen. Zudem sind unter den Menschen mit Beeinträchtigungen viele im höheren Lebensalter. Insbesondere Menschen mit sehr schweren oder mehrfachen Beeinträchtigungen gehören zu den Risikogruppen und sind besonders gefährdet, im Fall einer Infektion schwer zu erkranken. Für einen Teil dieses Personenkreises sind demnach besondere Schutzmaßnahmen erforderlich.
Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich daraus?
Aktuell beobachte ich, dass sich Teilhabe-Beschränkungen, von denen Menschen mit Behinderung generell betroffen sind, nochmals verschärfen. So bedarf der Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen vielfältiger barrierefreier Formate. Hier fehlen neben ausreichenden Angeboten in Gebärdensprache beispielsweise solche in leichter Sprache oder in Audioformaten. Viele Webseiten sind nicht barrierefrei, viele digitale Angebote nicht nutzbar. Generelle Maßnahmen greifen also oft nicht, während die spezifischen Maßnahmen ausbleiben. Die Folge ist, dass Menschen über die erforderlichen Informationen nicht oder nur unzureichend verfügen. Auch der Zugang zu Gesundheitsangeboten, wie barrierefreien Arztpraxen, ambulanten Diensten, Therapieleistungen oder Krankenhäusern, ist derzeit noch problematischer als ohnehin. Schutzbedingte Schließungen oder Einschränkungen, das Ausbleiben von Assistenzleistungen oder fehlende Schutzausrüstungen zeigen gravierende Folgen. Überdies benötigen manche Menschen mit Beeinträchtigung unterschiedliche Formen persönlicher Alltagsunterstützung. Abstandsregeln sind dann jedoch vor allem bei der Unterstützung von Menschen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf nicht umsetzbar. All das setzt Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch die Angehörigen, die Dienste sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurzeit besonderen Risiken aus.
Hat sich auch die soziale Situation mit den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus für Menschen mit Behinderungen geändert?
Das Kontaktverbot zeigt eindrücklich auf, dass digitale Medien die persönliche Beziehung nicht ersetzen können, da wichtige Bedürfnisse hierüber nicht erfüllbar sind. Social distancing ist eine Erfahrung, die nun alle machen. Die soziale Distanz markiert ja aber immer schon die Linie, die scheinbar klar behinderte von nicht behinderten Menschen trennt und zur erschwerten Teilhabe führt. Die Einbindung in soziale Beziehungen ist bei Menschen mit Beeinträchtigungen geringer als bei nicht beeinträchtigten Menschen, auch leben sie im Durchschnitt seltener in Partnerschaften. Anderen Lebensbereichen wie Beschäftigung, Kultur oder Freizeit kommt mit Blick auf Alltagskontakte deshalb eine gesteigerte Bedeutung zu. Gleichzeitig ist die Teilhabe auch hier oft eingeschränkt. Nun sind diese Bereiche für viele komplett weggebrochen und sie sind zu Hause isoliert. Die Familie erlangt, sofern vorhanden, einen noch höheren Stellenwert und trägt möglicherweise jetzt auch deutlich höhere Belastungen. Für manche Eltern behinderter Kinder macht der Betreuungsaufwand das home office zur Illusion.
Kaum beachtet wird in der öffentlichen Diskussion die Situation der in Wohnangeboten lebenden Menschen mit Beeinträchtigungen, von denen die meisten im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter sind. Für diese Wohnangebote besteht generelles Betretungsverbot, auch für Angehörige, Beschäftigungsstellen wie Werk- oder Tagesstätten sind geschlossen. Die Menschen, die häufig in Wohngruppen zusammenleben, sind hier enormen Zwängen ausgesetzt und haben zum Teil sehr große Probleme mit dem Verlust ihrer Alltagsaktivitäten und Kontakte. Ein Mindestmaß an sozialen Kontakten, außerhäuslichen Aktivitäten und gesellschaftlicher Teilhabe muss dringend für diejenigen ohne besondere gesundheitliche Risiken ermöglicht werden, ebenso wie Familien mit behinderten Angehörigen Entlastung brauchen.
Welche besonderen Herausforderungen stellen sich für die Beteiligten, und wie gehen diese damit um?
Es fallen nicht nur Beschäftigungs-, Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote weg, was die Isolation verstärken oder gesteigerte Unterstützungsanforderungen im Alltag mit sich bringen kann. Darüber hinaus geht es auch um den Verlust oder die Einschränkung spezieller Förder-, Therapie- und Rehabilitationsleistungen, die für erreichte Teilhabe- oder Aktivitätsmöglichkeiten oder für das körperliche und seelische Wohlbefinden wichtig sind. Teilweise geraten die Mitarbeitenden in wohnbezogenen Einrichtungen in Dilemmata zwischen dem Schutz vor Risiken und dem Recht auf Teilhabe. Diesen akuten Herausforderungen begegnen die Beteiligten hoch engagiert und auf kreativen Wegen - , sie bringen aber auch Mehrbelastung oder Risiken mit sich. So müssen unter anderem dringend die notwendigen Mittel für erhöhte Hygieneanforderungen und den Infektionsschutz bereitgestellt und wirtschaftliche Risiken abgefangen werden. Verbände und viele Institutionen haben bereits mit der Bereitstellung von Materialien und Informationen sowie einem veränderten Personaleinsatz reagiert.
Welche Beobachtungen machen Sie derzeit als Wissenschaftlerin zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Bildung?
Menschen mit Behinderung gehören zu den Gruppen, die – in individuell unterschiedlichem Ausmaß – Verluste mit Blick auf Bildungsziele und -inhalte erleiden. Die Auswirkungen auf die Bildungschancen für den Einzelnen sind hier überhaupt nicht absehbar. Spezielle Förderung kann nicht einfach durch die Eltern kompensiert werden, manchmal sind auch bestimmte Hilfsmittel nicht vorhanden und digitale Medien sind nicht uneingeschränkt nutzbar. Digitalisierung birgt gerade auch für Menschen mit Behinderung große Chancen, aber kaum jemand spricht aktuell über die erheblichen Grenzen, die hier bestehen. Dabei geht es nicht nur um Barrierefreiheit, die häufig nicht gegeben ist, sondern auch darum, dass manchmal der Zugang gar nicht vorhanden ist oder aber die Nutzung gar nicht, nur eingeschränkt oder nur mit spezieller Unterstützung möglich ist.
Gibt es etwas, was wir als Gesellschaft und als Einzelne derzeit tun können?
Solidarität als uneingeschränkt verstehen und damit auch und besonders für Gruppen einstehen, die im toten Winkel der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen – also nicht nur Partikularinteressen berücksichtigen. Inklusion gelingt nicht ohne Solidarität und diese erfordert soziale Bindungen und soziale Verantwortung. Die gegenwärtige Situation kann eine Chance sein, ein stärkeres Bewusstsein für Erfahrungen sozialer Distanz und damit auch für Ausgrenzung zu entwickeln. Sie kann auch eine Chance dafür sein, stärker zu begreifen, dass niemand vollkommen selbstbestimmt ist. Wir alle sind mehr oder weniger aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, und unser Bild vom Menschen ist unvollständig, wenn diese Erfahrung verdrängt wird. In diesem Zusammenhang sollten auch Debatten um Menschenwürde und das Recht auf Leben sehr aufmerksam und kritisch begleitet werden.
Auch Ihre Forschung hat sich verändert: Welche Herausforderungen begegnen Ihnen, und was sind die wichtigsten Erkenntnisse dieser Krise für Ihre Forschung?
Zunächst können wir selbst im IMPAK-Projekt bestimmte Schritte an unseren Untersuchungsstandorten, zehn Wohnangeboten für komplex beeinträchtigte Menschen, aufgrund des Betretungsverbots nicht durchführen. Dazu gehören auch gemeinsame Workshops zu Zwischenergebnissen. Daneben ist die partizipative Forschung, wie ich sie zusammen mit Silke Schreiber-Barsch im Rahmen eines Lehrlabor-Projektes anbiete, dieses Semester nicht möglich, weil die Menschen mit Lernschwierigkeiten, die hier sonst zusammen mit Studierenden forschen, nicht ausschließlich digital sinnhaft teilnehmen können – ihre Expertise fehlt also. Auf der anderen Seite gilt es jetzt, bereits laufende Studien zu den Auswirkungen der Einschränkungen zu unterstützen und zusammen mit anderen Forschungsgruppen und Institutionen den kurz- und längerfristigen Forschungsbedarf zu artikulieren. Dabei geht es sowohl um die spezifischen Risiken als auch um die Folgen für die Lebenslage der Menschen mit Behinderung und Angebote, es geht um aktuelle wie zukünftige Probleme und Herausforderungen auf Praxis- und Gesellschaftsebene.
Danke für das Gespräch!
Mehr Informationen zur Forschung von Prof. Dr. Iris Beck sowie ein Statement zur Lage von Menschen mit Behinderungen finden sich auf der Webseite.