Fakultät trauert um Prof. Dr. Karl KießwetterEin Nachruf von Prof. Dr. Marianne Nolte
27. September 2019, von Bente Gießelmann
Foto: UHH/Gießelmann
Prof. Dr. Karl Kießwetter
23.01.1930 – 21.09.2019
Für uns alle überraschend verstarb am Samstag, den 21.09.2019, Herr Prof. Dr. Karl Kießwetter in seinem 90. Lebensjahr.
Herr Kießwetter hatte von 1978 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1995 die Professur "Erziehungswissenschaft u.b.B. der Didaktik der Mathematik" inne. Die Erziehungswissenschaft verabschiedet sich von einem Kollegen, der die Didaktik der mathematischen Hochbegabtenförderung von Beginn der 1980er Jahre bis zuletzt maßgeblich mitgeprägt hat.
Zunächst als Mathematiklehrer in Nordrhein-Westfalen und später als Lehrender und Forschender an den Universitäten Münster und Bielefeld und ab 1978 an der Universität Hamburg faszinierte ihn die Arbeit an mathematischen Inhalten und an Fragen, wie die Tätigkeit eines forschenden Mathematikers Lernenden zugänglich gemacht werden kann. Die in die internationale Literatur eingegangene Kießwetterfunktion und das Kießwetterfraktal wurden von ihm ursprünglich unter einer hochschuldidaktischen Perspektive entwickelt.
Bereits als Lehrer war es ihm ein Anliegen, Schülerinnen und Schüler zum forschenden Lernen anzuleiten. Dies prägte auch seine Tätigkeit als Hochschullehrer. In seiner beruflichen Tätigkeit arbeitete er eng interdisziplinär mit Mathematikerinnen und Mathematikern, Psychologinnen und Psychologen sowie Didaktikerinnen und Didaktikern zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit entstand an der Universität Hamburg zu Beginn der 1980er Jahre die Arbeit an der Erforschung besonderer mathematischer Begabung. Zu dieser Zeit gründete er mit Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe die William-Stern-Gesellschaft Hamburg (WSG), deren Anliegen es ist, zur Erforschung von Fragen zur Hochbegabung und zur Förderung von Hochbegabten beizutragen. Über viele Jahre bis zu seinem Tod war er der erste Vorsitzende.
Gegen die Widerstände der damaligen Zeit, in der die Förderung besonderer mathematischer Begabung als Eliteförderung verpönt war, entwickelte er in einer fakultätsübergreifenden Arbeitsgruppe ein Forschungs- und Förderprojekt zur mathematischen Hochbegabung, das er bis zu seinem Tod leitete. Alle zwei Wochen treffen sich in diesem Rahmen Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe und bearbeiten mathematische Problemstellungen auf einem Niveau der Herausforderung, die ihnen ansonsten selten angeboten wird.
Bei der Entwicklung von herausfordernden, aber auch zugänglichen Problemfeldern im Kontext elementarmathematischer Inhalte war er äußerst kreativ. Seine Arbeiten zur mathematischen Hochbegabung verbinden Sachanalysen mit psychologischen Erkenntnissen und einer sehr sorgfältigen Beobachtung von Lernenden. Daraus leitete er Beschreibungen von geistigen Prozessen oder Handlungsmustern ab, die sich als günstig in Problemlöseprozessen erweisen. Diese sind eine wesentliche Basis seines Konzepts, Problemstellungen zu entwickeln, die den Schülerinnen und Schülern eine möglichst selbständige und ausdauernde Beschäftigung mit mathematischen Fragestellungen ermöglichen. Auf den Handlungsmustern basiert auch der von ihm entwickelte Test HTMB zur Erfassung einer besonderen mathematischen Begabung. Sie sind ebenfalls Grundlage für die Entwicklung von Fördermaterialien, mit denen Schülerinnen und Schüler sich forschend altersangemessen mit mathematischen Fragestellungen befassen können. Bis zu seinem Tod leitete er die Oberstufengruppe der WSG; aus der Beobachtung des Fortschritts in Problemlöseprozessen entwickelte er regelmäßig neue Problemstellungen. Die sorgfältige Vorbereitung der Fragestellungen führte dazu, dass immer wieder in der Oberstufengruppe kleine mathematische Theorien entwickelt wurden.
Wichtig war ihm auch die Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden. Menschliche Unzulänglichkeiten waren ihm bei der Entwicklung seiner Materialien und seines Konzepts immer bewusst. Eine gute Atmosphäre, Freiheit für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler waren ihm wichtig. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wurde durch die Zurückhaltung der Lehrkräfte unterstützt. Das, was heute als Noticing in der Didaktik beschrieben wird, gutes Beobachten, offen für verschiedene Interpretationen des Beobachteten und Reaktionen, die von Wertschätzung getragen werden, gehörte zu den wesentlichen Elementen seines Konzepts. Diese Kompetenzen hielt er generell bei Lehrkräften für entscheidend.
Mit seinem Förderangebot hat er viele Menschen erreicht. Über viele Jahre hielt er regelmäßig Vorträge für interessierte Eltern und Lehrkräfte gemeinsam mit der Mathematischen Gesellschaft Hamburg. Seine Ansätze zur Begabtenförderung haben in Deutschland und auch international weite Verbreitung gefunden. Viele seiner Schülerinnen und Schüler haben das Konzept weiter getragen, sei es als Lehrkräfte in der Schule, sei es in der Erforschung und Förderung mathematischer Begabung.
Herrn Kießwetter wurde für seine langjährige ehrenamtliche Tätigkeit das Bundesverdienstkreuz verliehen; mit hohem Engagement setzte er sich für eine Weiterführung seines Projekts ein, für das er zudem Mittel sichern konnte.
Wer Herrn Kießwetter persönlich erleben durfte, wird ihn als einen herzlichen und immer hilfsbereiten Menschen, Kollegen und akademischen Lehrer in Erinnerung behalten, der seine Überzeugungen mit hohem Engagement vertreten hat. Immer war er auch für persönliche Nöte zugänglich. Offenheit und Neugier über die Mathematik hinaus zeichneten ihn aus. Wir verlieren mit ihm einen sehr engagierten Forscher und Lehrer. Wir werden ihn sehr vermissen!
Marianne Nolte