Bildung und ästhetische Widerständigkeit (Dissertationsprojekt)
Dissertationsvorhaben - Patrick Pahner
Arbeitstitel: Ästhetik, Erfahrung, Widerständigkeit. Über das Schicksal von Bildung und Erfahrung im Horizont einer Theorie musikalischer Halbbildung – Überlegungen aus kritisch-pädagogischer Perspektive
Vor dem Hintergrund von Adornos „Theorie der Halbbildung“ (1959) ist das zentrale Anliegen der anvisierten Studie die Untersuchung von Bildung und Erfahrung sowohl allgemein hinsichtlich ihrer idiosynkratrischen Konstellation, als auch – im Besonderen – hinsichtlich einer spezifischen Verortung im Bereich der Ästhetik (cf. dazu Kappner 1984) sowie, speziell, der Musik. Stete Fokuspunkte bleiben hierbei einerseits die zentrale Bedeutung von Bildung für pädagogische und (sozial-) psychologische Zusammenhänge, andererseits die historischen wie perennierenden Strategien „positiver“ begrifflicher Besetzungen, die nicht selten im Arbiträren versanden oder systematisch etwaige kritische Gehalte zu eskamotieren versuchen.
Bildung - "Glanz und Elend"
Gerade im ästhetischen Spektrum erscheint der „rhetorische Charme“ des Bildungsbegriffs (Knobloch 2013: 105) als um ein Vielfaches potenziert, da er doch gerade hier „in einer gewis-sen“ – teilweise erwünschten und festgeschriebenen – „Unbestimmbarkeit schillert“ (Khittl 2012: 164), deren Nährboden gelegentlich die eine oder andere „rhetorische Hohlform“ (die-ses Beispiel stammt etwa aus dem Dunstkreis der sog. ‚musischen Bildung‘) (Vogt 2012a: 13) abwirft. Die auffällige Häufigkeit jedenfalls, mit der etwa seine vermeintlich fachdienliche Spezifizierung (etwa als ‚ästhetische Bildung‘ oder als ‚musikalische Bildung‘) anzutreffen ist, steht in einem allzu deutlichen Missverhältnis zu den systematischen Versuchen einer begrifflichen Aufklärung oder auch nur Konturierung. Die sich zwangsläufig ergebenden begrifflichen Unschärfen, besonders aber gezielte Formalisierungen fördern die Anschlussfähigkeit und fordern den Anschluss an Momente, die den ‚klassischen‘ Bildungsbegriff gänzlich unterminieren; von dessen einst vermuteten – nunmehr letztlich „kalkulierten“ (Adorno 1959: 108) – „Glanz“ und seiner „emphatischen“ Auffassung (Bollenbeck 1996: 98) scheint derweil nichts mehr auf. Statt des aufrichtigen Bemühens um die Aufdeckung kritischer Potenziale ist flächendeckend eher eine gezielte Verengung „auf Verwertungsinteressen“ konstatierbar, die Bildung zum bloßen „Wirtschaftsfaktor“ (Borst 2009: 15 f.) degradiert, der ihn in einer regelrechten „Bildungsindustrie“ kulminieren lässt, die ein „immenses Betätigungsfeld für privatwirtschaftliche Akteure“ ist, in dem „entwicklungspsychologische Aspekte … ebenso wenig eine Rolle [spielen,] wie bildungstheoretische Überlegungen; Ziel ist ein distanz- und kritikloser Umgang mit Medien im Modus lebenslanger Selbstoptimierung nach externen Vorgaben.“ (Kunert/Rühle 2018: 8 f.) Spätestens in dieser Lesart offenbart sich der Begriff der Bildung mindestens als prätentiös und – als „neoliberaler Strategiekern“ (Knobloch 2013) – ideologisch und stellt, vor dem Hintergrund des ‚klassischen‘ Verständnisses, nicht mehr als „eine Verfallsform dar, in der der utopisch-kritische Gehalt … verloren gegangen ist“ (Rolle 1999: 39); eine Form, die also ihre „historische und jede andere spezifische Bedeutung verloren“ hat (Hentig 1996: 21).
Wiederherstellung des kritischen Potenzials
Theoretisches Fundament einer anvisierten Wiederherstellung des kritischen Potenzials – dieses lässt sich, wie zu zeigen sein wird, im Wesentlichen durch unverkürzte Rationalität, ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse (Habermas 1973) sowie postkonventionelle Mündigkeit (cf. u.a. Kohlberg 1976) insbesondere in der diskursiven Bestimmung Apels (1981: insb. S. 358 ff.) kennzeichnen –, mindestens aber einer Darstellung des Ausmaßes seiner ‚Verschüttung‘ (nicht nur) im (musik-) pädagogischen Bereich sind Überlegungen im Horizont Kritischer Theorie, allem voran jene überaus verdienstvollen hinsichtlich einer adäquaten und haltbaren (Neu-)Fassung des Bildungsbegriffs (etwa Heydorn 1970; 1980; Horkheimer 1952; Kappner 1984, freilich Adorno 1959), deren adäquate Würdigung gemessen an ihrer Luzidität und an ihrer „prognostischen Hermeneutik“ (Anders 2013: 425 ff.) bislang versäumt wurde.
Wider ebendieses Versäumnis fokussiert das hiesige Untersuchungsvorhaben die als profunde Bildungskritik angelegte und – wie aufzuzeigen sein wird – in ihrer (musik-)pädagogischen Relevanz bisher unterschätzte „Theorie der Halbbildung“ Theodor Adornos (1959), auf deren Grundlage sie – mutatis mutandis – eine theoretische Rahmung ‚musikalischer Halbbildung‘ vornimmt, vermittels derer sie nicht zuletzt auf die Erhellung allgemeinpädagogisch relevanter Momente hinsichtlich subjektiver Erfahrungsfähigkeit zielt. Dazu muss sie gleichermaßen nach (subjektiv-)ontogenetischen wie (objektiv-)phylogenetischen Voraussetzungen von Bildung und Erfahrung, die nur in strenger Abhängigkeit voneinander gedacht werden können (cf. Kappner 1984), fragen, wobei sie – nach Kenntnis des Verfassers erstmals – hinsichtlich der ontogenetischen Voraussetzungen auch einen psychoanalytischen Zugang wagt.
Der universelle Anspruch kritischer Theorie bringt es zudem mit sich, dass eine auf seiner Basis vollzogene (musikpädagogische) Perspektivübernahme nicht nur zur Bereicherung peripherer pädagogischer und theoretischer Gebiete beiträgt, sondern die Untersuchung jener Peripherie eine Rückkopplung auf zentrale Gedankenmomente zulässt, die – weit über die einstige streng fachliche Provenienz hinausreichend – eine viel erheblichere pädagogische Bedeutsamkeit offenbart: Denn unstrittig ist zwar „Adornos zentrales Verdienst für die Musikpädagogik … die Decouvrierung musikpädagogischer Ideologie“ (Abel-Struth 1986: 221), doch darüber hinaus gelten ihm musikalische Sachverhalte (und das heißt auch: sich an ihnen entzündende Problematiken) nicht allein als hermetisch-ästhetische, sondern immer zugleich als gesellschaftlich gewordene wie vermittelte. In diesem „für eine musikpädagogische Theorie fundamentale[n] Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Verhältnis des mit Musik umgehenden Menschen einerseits zur Sache selbst, zur Musik andererseits als durch Gesellschaft vermitteltes“ (Ackermann 2007: 61 f.) zeigt sich ein spezifisches dialektisches Spannungsfeld. Eben dieses Spannungsfeld verweist auf das im Untertitel genannte „Schicksal von Bildung und Erfahrung“.
Musik und das "paradoxe Kunstwerk"
Die anvisierten Studien sollten zu zeigen in der Lage sein, dass der Fokus auf Musik ein durchaus gewinnbringender ist – nicht zuletzt, da er sich aus einem Negativen ergibt; an ihr lässt sich wohl beispiellos der Einfluss kulturindustrieller Verwertungs- und Verwaltungslogik auf ästhetische Gebilde aufzeigen, die idealiter weiterhin als unabhängig von ihm denkbar bleiben und somit ein spezifisches Spannungsfeld erzeugen: sie werden um ihr Nichtidentisches qua Normierung, Standardisierung und Schematisierung infinitesimal reduziert, was sich wiederum auf die ästhetische (musikalische) Erfahrungsfähigkeit des Menschen auswirken muss, die ihrerseits eine deutliche Schematisierung erfährt und verzerrt „auf das Kunstwerk zurück[wirkt]“, das sich schließlich als paradoxes offenbart (Ackermann 2007: 63; Kappner 1984: 210-225). Während Kappner hier nun eine „dialektische Rettung der Ware“ Musik vermittels einer dialektischen Auslegung der zur ‚Herstellung‘ von Musik notwendigen Arbeit versucht (Kappner 1984: 210 ff.), will die anvisierte Studie die subjektiven Bedingungen für eine Auflösung des Paradoxons fokussieren und die Frage stellen, wie Subjekte auch ohne eine „Erziehung zum Widerspruch und Widerstand“ bzw. einer „Erziehung zur Erfahrung“ (Adorno 1971: 145, 116) Erfahrungsfähigkeit, mindestens aber Erfahrungsbereitschaft (auch i.S. eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses) entwickeln können. Hierfür wird die Studie zunächst bei o.g. infinitesimaler, also niemals vollkommener Reduktion ansetzen, als deren Ursprung sie nicht etwa eine kalkulierte Lückenhaftigkeit serieller Massenproduktion von Musik, sondern viel eher ein menschliches Grundvermögen und Grundbestreben nach faktischer (nicht inszenierter) Varianz und künstlerischer Virtualität vermutet. Diesem – in Anbetracht von standardisierter Produktion durchaus ästhetisch-subversiven – Moment soll abschließend nachgespürt werden.
Ästhetische Widerständigkeit
Zweifellos finden sich solche subversiven Potenziale auch in kulturindustriell vermittelten Produkten, „allerdings sehr disparat“, „verstreut“, „verzerrt“, „voller Widersprüche“ und überlagert von „sehr regressive[n] Momente[n]“, die es unmöglich machen, ein Produkt „an sich für subversiv zu erklären.“ Die eigentliche Subversion bleibt also „an den ‚subjektiven Faktor‘ gebunden, braucht einen radikalen Voluntarismus des Einzelnen, den Wunsch, unreglementierte Erfahrungen auch machen zu wollen, letzthin also die Anstrengung, sich nicht dumm machen zu lassen […]: also selbst schon ein Moment von unreglementierter Erfahrung, die zur Hoffnung, ja zur Utopie befähigt“ (Behrens 2014: 52).
Sofern nun keine wundersame Introjektion dieser subversiven Potenziale direkt ins subjektive Bewusstsein angenommen wird, erscheint die Verortung dieser Potenziale einzig im Subjektinneren als sinnvoll. Mehr noch: Die Annahme einer durch dem Subjekt Äußeres motivierten „subversiven Erweckung“ negierte schlechterdings jedwede subjektive Autonomie, an der Bildung allerdings ungetrübt festhalten muss, will sie das Subjekt nicht zum rein passiven, beliebig manipulierbaren Objekt im materialen Sinne degradieren. Als „Keimzelle“, als – unbedingt aufzulösende – „regulative Idee“ dieser (ästhetischen) Widerständigkeit als Grundlage jedweder adäquaten Erfahrung, wäre etwa ein Ersterleben von faktischer Subversion der regressiv-gesellschaftlichen Vermitteltheit denkbar, das vermutlich innerhalb frühkindlicher Entwicklung verortet sein müsste, was anhand entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Theoriebildung aufzuzeigen und schließlich – unter der Apostrophierung des Aspekts der Erfahrung – auf die Entwicklung ästhetischen Bewusstseins zu übertragen wäre.
Literatur
- Abel-Struth, Sigrid (1986): „Zur ‚Dissonanzen‘-Diskussion. Briefe Theodor W. Adornos an Martin Lutschewitz.“ In: Musica. Ausg. 3/1986, S. 217-221.
- Ackermann, Peter (2007) [1984]: „Musikpädagogik und kritische Theorie.“ In: Institut für Musikpädagogik Frankfurt a. M. (Hg.) (2007): Zielstringenz in der Musikpädagogik. Zum Gedenken an Sigrid Abel-Struth (1924-1987) (= Musikpädagogische Impulse Bd. 9). Fernwald: Muth, S. 59-66.
- Adorno, Theodor W. (1959): „Theorie der Halbbildung.“ In: Ders. (2003): Soziologische Schriften I. (= Ges. Schriften Bd. 8. Hg. v. R. Tiedemann et al.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 93-121.
- Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hrsg. v. G. Kadelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Anders, Günther (2013) [1980]: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. 4. Aufl. München: Beck.
- Apel, Karl-Otto (1981) [1973]: Transformation der Philosophie. Bd 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Behrens, Roger (2014) [2011]: „Kritische Theorie der Kulturindustrie heute: Fortzusetzen. Jordi Maiso im Gespräch mit Roger Behrens.“ Dt. Erstveröffentl. In: Widerspruch. 33. Jg., Ausg. 58, S. 31-53.
- Bollenbeck, Georg (1996): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Borst, Eva (2009): Theorie der Bildung. Eine Einführung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
- Habermas, Jürgen (1973) [1968]: Erkenntnis und Interesse. 11. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Hentig, Hartmut von (1996): Bildung. Ein Essay. München, Wien: Carl Hanser.
- Heydorn, Heinz J. (1970): Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt.
- Heydorn, Heinz J. (1980): Ungleichheit für alle: zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt a. M.: Syndikat.
- Horkheimer, Max (1952): „Begriff der Bildung.“ In: Ders. (1972): Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, hg. v. W. Brede. Frankfurt a. M.: Athenäum Fischer, S. 163-172.
- Kappner, Hans-Hartmut (1984): Die Bildungstheorie Adornos als Theorie der Erfahrung von Kultur und Kunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Khittl, Christoph (2012): „Kann Hören bildend sein? Plädoyer für den Begriff der musikalischen Rezeptionsdidaktik.“ In: Bailer, N.; Glanz, C. (Hg.) (2012): Musikbildung – Allgemeinbildung (= Musik und Gesellschaft Bd. 32). Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 133-167.
- Knobloch, Clemens (2013): „‚Bildung‘ – ein Strategiekern neoliberaler Rhetorik?“ In: Weiß, E.; Salomon, D. (Red.) (2013): Krisendiskurse (= Jahrbuch für Pädagogik 2013). Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 105-121.
- Kohlberg, Lawrence (1976): Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
- Kunert, Simon; Rühle, Manuel (Red.) (2018): Bildungsindustrie (= Kritische Pädagogik. Eingriffe und Perspektiven Heft 5/2018). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
- Rolle, Christian (1999): Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse. Kassel: Bosse.
- Vogt, Jürgen (2012a): „Musikalische Bildung – ein lexikalischer Versuch.“ In: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik. Jg. 2012.
- Vogt, Jürgen (2012b): „Wo ist eigentlich die kritische Theorie geblieben? Eine Art Vermisstenanzeige.“ In: Knigge, J.; Niessen, A. (Hg.) (2012): Musikpädagogisches Handeln. Begriffe, Erscheinungsformen, politische Dimensionen. Essen: Die Blaue Eule, S. 345-358.