Expert:innen-Hearing in der britischen Botschaft in Berlin
23. Mai 2024, von Kristie Jakob
Foto: N.Knuth
Britische Parlamentarier:innen zu Besuch in Berlin – Stefan Köngeter als Experte in der britischen Botschaft
„Children’s social care“ ist ein derzeit vieldiskutiertes politisches Thema im Vereinigten Königreich, denn die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen sprengt aktuell das Budget vieler Kommunen, insbesondere in England. Daher hat das britische Parlament dem „education committee“, bestehend aus 11 Parlamentarier:innen des Unterhauses, den Auftrag gegeben, das aktuelle System der Heimunterbringung für Kinder und Jugendliche in England zu untersuchen. Der Ausschuss hat sich u.a. zur Aufgabe gemacht, die steigende Nachfrage und die steigenden Ausgaben der lokalen Behörden zu bewältigen und Kinder mit komplexen Bedürfnissen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang hat das Komitee eine Delegation nach Berlin geschickt, um das deutsche System der Erziehungshilfen näher in Augenschein zu nehmen und nach Möglichkeiten zu suchen, aus Erfahrungen im deutschen System zu lernen. Dazu hat die britische Botschaft am 13. und 14. Mai 2024 ein umfangreiches Programm mit Praxisbesuchen und einem Expert:innen-Hearing organisiert.
Für das Hearing waren Prof. Dr. Nicole Knuth (FH Dortmund), Dr. Benjamin Strahl vom AFET Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. und Prof. Dr. Stefan Köngeter (Universität Hamburg) eingeladen. Nach einer kurzen Einführung in die verschiedenen Facetten des Erziehungshilfesystems in Deutschland durch die drei Expert:innen nutzten die Parlimentarier:innen die Gelegenheit, vor dem Hintergrund der Krise im Vereinigten Königreich ihre Fragen zu stellen. Als besonders attraktiv erwies sich vor allem das umfangreiche niedrigschwellige und ambulante Angebot an Erziehungshilfen, das bereits vor einer stationären Unterbringung unterstützend für Familien greift. Gleichzeitig waren sie sehr beeindruckt von der Qualität der Ausstattung sowie der Zufriedenheit der Adressat:innen wie auch der Mitarbeitenden. Im Gespräch wurde deutlich, dass die aktuellen Probleme in erster Linie auf ein Marktversagen des britischen Systems zurückzuführen sind, bei dem die ganz überwiegend privaten und auf Investoren ausgerichteten Einrichtungen Gewinne zu Lasten der Kommunen und der Adressat:innen machen. So kostet die Unterbringung in einem Heim in England häufig rund 10.000 britische Pfund in der Woche bei manchmal zweifelhafter Qualität (https://www.theguardian.com/society/2024/apr/28/vulnerable-teenagers-dumped-and-abandoned-in-hotels-by-councils-in-england). Auch wenn in Deutschland die Kostenstruktur stark variiert, so sind die Kosten hier nach wie vor sehr viel niedriger.
Eine Investition in das System der Erziehungshilfen machen die englischen Politiker:innen jedoch davon abhängig, dass es belastbare Zahlen für einen möglichen „return on investment“ gebe, um eine solche Umgestaltung zu legitimieren. Sie konnten nicht nachvollziehen, warum in Deutschland (wie auch in England) nicht mehr Wert auf eine verbesserte Statistik hinsichtlich der Langzeitauswirkungen von Heimerziehung, vor allem in Bezug auf den weiteren Lebenslauf der Adressat*innen, gelegt wird. Sie betonten, dass die Erhebung von Daten im weiteren Lebenslauf junger Menschen aus dem Heim unbedingt zur Bewertung von Hilfen gehöre. Kritisch wurde allerdings von den deutschen Expert:innen eingeschätzt, dass die englische Politik besonders den Zusammenhang von Heimerziehung und kriminellen Karrieren in den Fokus nehme, statt Risiken von bestimmten Lebensphasen und das aktuelle Wohlbefinden der untergebrachten Kinder und Jugendlichen in solche Analysen mit einzubeziehen.
Viele wichtige Anregungen haben die Parlamentarier:innen mitgenommen, ob und in welcher Form diese schließlich aufgenommen werden, hängt sicherlich nicht zuletzt von den Wahlen zum Unterhaus ab, die im Juli dieses Jahres stattfinden werden.
Ein ausführlicher Bericht erscheint im Forum Erziehungshilfen 3/2024.