Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft besetzt"Welche pädagogischen Möglichkeiten sehen wir angesichts einer fraglich gewordenen Zukunft?"Prof. Dr. Kerstin Jergus im Gespräch
1. November 2023
Foto: privat
Prof. Dr. Kerstin Jergus ist von der Technischen Universität Braunschweig nach Hamburg gekommen und hat zu Oktober an der Fakultät eine Professur für „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ angetreten.
Ihr Weg als Wissenschaftlerin in fünf Sätzen?
Ich habe das Fach Erziehungswissenschaften in Halle studiert und dort auch meine Promotion zum Thema „Sprechen über Liebe und Verliebtheit“ geschrieben. Im Anschluss habe ich über viele Stationen hinweg – u.a. als Vertretungsprofessorin in Bremen und Dresden, als Privatdozentin an der Universität Frankfurt und schließlich als Professorin in Fribourg (Schweiz) sowie Braunschweig – den Weg an die UHH gefunden. An allen Standorten erlebte ich kollegiale Unterstützung und Wertschätzung, die jeweils unterschiedlich das gemeinsame Denken und Forschen eröffnet haben. Diese akademischen Begegnungen im denkenden Austausch sind es, die mich auf meinem Weg auch über manch herausfordernde Situationen hinweg getragen haben und meine Begeisterung für das Fach Erziehungswissenschaft stets aufs Neue entfachen.
Was war ausschlaggebend für Ihre Entscheidung, an die Uni Hamburg zu kommen?
Der akademische Kontext der UHH, konkret auch die disziplinäre Ausrichtung der Erziehungswissenschaft genießt bundesweit ein großes fachliches Renommee. Teil dieses akademischen Zusammenhanges zu werden und mich in dessen inhaltlich-systematische Stärkung einzubringen, ist für mich ein entscheidender Faktor für meinen Schritt an die UHH gewesen.
An welchen Forschungsthemen arbeiten Sie derzeit?
In erster Linie beschäftigen mich schon sehr lange und mit immer wieder neuer Begeisterung die Theorie und Geschichte der Pädagogik. Ich arbeite zum Beispiel zu Fragen der pädagogischen Autorität, zu Bildungstheorie oder zu pädagogischen Beziehungen im historischen Wandel und in der Gegenwart. In diesem Zusammenhang interessiert mich vor allem auch, wie gesellschaftliche Transformationen und gesellschaftspolitische Rahmungen die jeweiligen Erziehungs- und Bildungsverhältnisse bedingen und diese ermöglichen. Aktuell könnte in dieser Hinsicht beispielsweise der Klimawandel genannt werden, der unmittelbar die Frage aufwirft, wie den nachfolgenden Generationen die Einrichtung ihrer Welt überhaupt ermöglicht wird. Und hier spielen auch bildungspolitische und soziokulturelle Dimensionen eine Rolle, etwa mit Blick auf das Verhältnis zur Demokratie oder auch den Normierungen bzw. Identitätszumutungen in Selbstwerdungsprozessen. Diese beiden Schwerpunkte – Theorie und Geschichte in Verbindung mit gesellschaftspolitischen Kontexten – interessieren mich als zweites auch unter Forschungsgesichtspunkten. Was heißt es beispielsweise, eine pädagogische Fachkraft in einem bildungspolitisch neu bewerteten Feld zu sein, wie ich in meiner Forschung zu Weiterbildungen von Erzieher*innen mit der Frankfurter Kollegin Christiane Thompson untersucht habe? Oder was heißt es, als Jugendliche derzeit im Horizont politischer und gesellschaftlicher Transformationen aufzuwachsen und sich in diesem Rahmen zu bilden – eine Frage, die ich derzeit im Rahmen von Forschungen zu Zukunft-Jugend-Politik bearbeite.
Wie erklären Sie Ihre Forschung ganz einfach verständlich?
Ich beschäftige mich mit pädagogischen Themen, die sich auf die Frage beziehen, wie die von uns bewohnte Welt (und wer ist eigentlich dieses „uns“?) auch für die nachkommenden Generationen eine (selbständige und) selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Aktuell stellen sich diese Fragen intensiv im Horizont des Klimawandels und vor dem Hintergrund antidemokratischer Tendenzen in der Gesellschaft.
Zu welchen aktuellen gesellschaftlichen Themen oder Herausforderungen möchten Sie Ihre wissenschaftliche Expertise beitragen (und wie)?
Bereits genannt habe ich die Frage nach den pädagogischen Möglichkeiten angesichts einer fraglich gewordenen Zukunft im Lichte des Anthropozäns und des menschengemachten Klimawandels, d.h. es geht mir um eine gesellschaftskritische Perspektive auf das Aufwachsen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Meinen Beitrag hierzu sehe ich zum einen im Hinblick auf die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte in und außerhalb der Schule, die sich zu solchen Gegenwartsfragen theoriebasiert, reflexiv und kritisch positionieren können. Zum anderen sehe ich meine Theoriearbeiten und Forschungen als wichtige Beiträge zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen, die insbesondere die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen betreffen, auch das Nachdenken über Herrschafts- und Machtverhältnisse und nicht zuletzt die Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung, die sich nicht den gegenwärtigen Optimierungszwängen unterordnet.
Was erwarten Sie von den Studierenden und von sich selbst innerhalb der Lehre?
Mir liegt sehr viel daran, die Problemstellungen pädagogischen Handelns in den schulischen und außerschulischen Feldern im Horizont ihrer gesellschaftlichen Rahmung zu diskutieren und zu einer theoretisch fundierten Reflexivität der Profession beizutragen. Die Studierenden können daher erwarten, dass sie grundlegende Fragen und Themenstellungen mit aktuellen Zeitbezügen kennenlernen und in die Lage versetzt werden, diese zu diskutieren und zu reflektieren. Dabei ist es mir ein besonderes Anliegen, die Pluralität theoretischer Bezüge so zu diskutieren, dass die historischen Spuren unserer vermeintlichen Selbstverständlichkeiten ebenso zugänglich werden, wie unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Problemstellungen in der akademischen Lehre einen zentralen Bezugspunkt abgeben. Wichtig ist mir vor allem auch, dass Studierende sich als Teil der Universität erleben und begreifen können. Dass Theorie, Lektüre und Debatte als bereichernd erlebt werden, das wäre mein Anspruch an akademische Lehre.
Was möchten Sie mit und an der Universität Hamburg erreichen?
Die Relevanz der Theoriebildung in den Humanities, aber insbesondere in der Erziehungswissenschaft zu stärken und ihr aktuelle Sichtbarkeit zu verleihen, ist für mich eine starke Triebfeder im akademischen Arbeiten. Dies mit Studierenden und Kolleg*innen weiterhin in die fachliche Debatte und in die universitätsinterne Verständigung einzubringen sowie die gegenwärtigen pädagogischen Fragestellungen in der interessierten Öffentlichkeit zu diskutieren, ist ein Anliegen, dass ich gern stärken möchte.
Worauf freuen Sie sich in Hamburg?
Die Weite der Stadt – kulturell, räumlich und akademisch.