Junge Forschung: Wie hängen Mehrsprachigkeit und Wohlbefinden von Kindern zusammen?Anouk Ticheloven im Gespräch
20. Dezember 2022
Foto: privat
Wie genau hängen Mehrsprachigkeit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen zusammen, warum ist das überhaupt ein Thema? Und was können Pädagog:innen tun, um das Wohlbefinden mehrsprachiger Schüler:innen zu unterstützen? Zu diesen Fragen forscht Anouk Ticheloven, Promovierende und Schulleiterin der niederländischen Schule in Hamburg, und berichtet dazu im Gespräch mit Markus Friederici, Leiter der Graduiertenschule.
Neue Reihe „Junge Forschung“
Woran arbeiten eigentlich junge Erziehungswissenschaftler:innen? Und wo können sie aus ihrer Forschungsarbeit interessante Impulse für die Praxis einbringen? In einer neuen Reihe stellen wir junge Forschende aus unserer Fakultät und ihre Arbeit vor - und zwar im Interview mit unserem Leiter der Graduiertenschule, Dr. Markus Friederici.
Liebe Anouk, worum geht es in deiner Arbeit?
In meiner Dissertation geht es um zwei Themen: Mehrsprachigkeit und das emotionale Wohlbefinden bei Jugendlichen. Hier ging es mir darum, den Zusammenhang zwischen language proficiency und emotional wellbeing nachzuzeichnen. Das Datenmaterial meiner Arbeit entstammt einer systematischen Literaturrecherche und der longitudinalen MEZ-Studie mit mehrsprachigen Jugendlichen, wobei MEZ für Mehrsprachigkeit im Zeitverlauf steht. Die Studie betreut Prof. Ingrid Gogolin.
Welche Ergebnisse hast du erhalten?
Sprache ist identitätsstiftend, sie ist wichtig für das emotionale Wohlbefinden, genauso wie auch Erfolg in der Schule und das „Dazugehören“ zum emotionalen Wohlbefinden dazugehören. Sprache ist ein zentrales Element, um dazugehören zu können. Es gibt zu diesem Thema viele unterschiedliche Studien und Sichtweisen, aber eine übergreifende Theorie fehlt. So ist bekannt, dass eine niedrige Lesefähigkeit die Wahrscheinlichkeit von Depressionen erhöhen kann, während eher ängstliche Jugendliche in unterschiedlichen Studien oft etwas höhere Sprachleistungen aufweisen. Insbesondere höhere Fähigkeiten in der Herkunftssprache beeinflusste in mehreren Studien nachweislich das emotionale Wohlbefinden im positiven Sinne. Für Jugendlichen im deutschen Kontext werde ich mit den MEZ-Daten nochmal genauer der Frage nachgehen, wie Fähigkeiten im Deutschen, in Fremdsprachen und in den Herkunftssprachen Türkisch und Russisch mit emotionalem Wohlbefinden zusammenhängen.
Welche Relevanz haben deine Ergebnisse für konkrete Praxisfelder?
Für eine Gesellschaft ist es wichtig, dass sich Jugendliche wohlfühlen, dass sie eine starke Identität entwickeln, auch um mit Stigmatisierungen umgehen zu können. Denn sowohl psychische Probleme als auch „andere“ Sprachfähigkeiten als die, die den gesellschaftlichen monolingualen Normen entsprechen, sind beladene Themen und oft mit starken Stigmatisierungen verbunden.
50 Prozent der Fünfjährigen in Hamburg haben einen Migrationshintergrund, daher sind Forschungen zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit so wichtig für die Praxis. Es gilt aufzuzeigen, welche Bedeutung Sprache für das emotionale Wohlbefinden hat, insbesondere auch Fähigkeiten in der Herkunftssprache. Damit können Jugendliche wie auch Eltern und Lehrer:innen bewusster mit Sprachen umgehen, Interesse für andere Sprachen zeigen, und dabei offener und bewusster das emotionale Wohlbefinden von Jugendlichen in den Blick nehmen.
Gibt es eine Quintessenz deiner Arbeit?
Sprache sollte gefördert werden, und zwar auch die Mehrsprachigkeit. Die muss nämlich kein Hindernis oder ein Risiko sein, sondern kann eine Ressource sein.
Was würde die Wissenschaftlerin Anouk der Schulleiterin Anouk empfehlen?
Eine erste „Handlungsempfehlung“ wäre ganz einfach: die MEHRsprachigkeit wertschätzen. Es ist wichtig den Kindern zu erklären, dass es was ganz Tolles ist, mehrere Sprachen zu können - auch wenn sie vielleicht mehr „Fehler“ als Altersgenossen in den Niederlanden in der niederländischen Schrift machen, oder für einige Schüler(innen) auch im Vergleich zu Altersgenossen in Deutschland in der deutschen Sprache. Auf Mehrsprachigkeit kann man als Grundhaltung, stolz sein, auch wenn manchmal in bestimmten Bereichen noch weitere Förderung erforderlich ist. Der zweite Punkt wäre als Lehrkraft nicht lediglich darauf zu achten, wie die Kinder sich sprachlich entwickeln, sondern auch emotive Faktoren zu beachten, wie Frust und Angst. Sowohl bei Kindern, die etwas niedrigere Sprachleistungen aufweisen, als aber gerade auch bei Kindern, die sehr gute Sprachleistungen haben.
Als Schulleiterin würde ich antworten, dass wir tatsächlich immer wieder sehen, wie unterschiedlich ausgeprägt die sprachen- und (sprachlernbezogenen) Emotionen bei Kindern sind…
Danke für das Gespräch!
Anouk Ticheloven arbeitet im Bereich Interkulturelle und International vergleichende Erziehungswissenschaft. Sie ist Mitarbeiterin im Projekt "Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf" (MEZ), ihre Forschungsschwerpunkte sind Social-Emotional Well-being, Literacy, Multilingual Pedagogies und Translanguaging. Anouk Ticheloven ist Schulleiterin der niederländischen Schule in Hamburg (Nederlands Onderwijs Hamburg).