Studierende entwickeln Unterrichtskonzepte für Ausstellung "Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung"Ein Bericht von unserem Studierenden Jannis-Frédéric Müller
14. September 2022
Foto: UHH/EW
Gespanntes, angeregtes Tuscheln erfüllt den Vortragsraum der Uni-Bibliothek. Heute Abend bin ich einer von etwa vierzig interessierten Zuhörer:innen und Studierenden in der Vorstellung des spannenden Projektberichts „Lernen über und an der frühen Holocaust-Forschung. Studentische Beiträge zur didaktischen Analyse“. Prof. Dr. Andreas Körber, Leiter des Arbeitsbereichs Geschichtsdidaktik eröffnet die Veranstaltung mit einigen einleitenden Worten: „Was wir heute vorstellen wollen, sind Ideen, Ansätze und Vorstellungen zur und anlässlich der Ausstellung ,Verfolgen und Aufklären – die erste Generation der Holocaustforschung‘. Es geht darum, welche Perspektiven auf die Ausstellung entwickelt werden können, um sie auch für junge Menschen und Lernende zu thematisieren. Wir haben uns gefragt, wie wir diese Ausstellung einbeziehen können in problemorientierten Geschichtsunterricht, der neue Zusammenhänge aufgreift, die die Schüler:innen mitbringen oder mitbringen würden, wenn sie bereits etwas dazu gelesen haben – wo schon Bekanntes aktiviert werden kann.“
Die erfolgreiche Wander-Ausstellung „Verfolgen und Aufklären – die erste Generation der Holocaustforschung“ gastiert derzeit im Lichthof der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. In zwei Seminaren der Geschichtsdidaktik unter der Leitung von Prof. Dr. Körber beschäftigten sich die Lehramtsstudierenden damit, welche Bedeutung Ausstellungen wie diese für die Geschichts- und Erinnerungskultur in unserer heutigen Gesellschaft haben können und erarbeiteten in Gruppen vielfältige Unterrichtskonzepte mit unterschiedlicher thematischer Nähe zur Ausstellung.
Zurück in den Vortragsraum. Besonders spannend finde ich: Die entwickelten Konzepte wurden und werden im Zuge der Master-Praktika der Studierenden in verschiedenen Klassen erprobt und alle entstandenen Unterrichtsskizzen sind rund um die Zuschauer:innen an Stellwänden auf Plakaten im Raum ausgestellt. Herr Körber kündigt an, dass zwei der Studierendengruppen ihre Ergebnisse gleich vorstellen und lädt alle ein, nach den Präsentationen bei einem „Gallery Walk“ mit den anderen künftigen Lehrer:innen ins Gespräch zu kommen und sie nach ihren Konzepten und Erfahrungen zu befragen – das mache ich unbedingt!
Birgül Cicek, Studentin der Fächer Geographie und Geschichte für Lehramt an Gymnasien, übernimmt das Wort und gibt einen ersten Eindruck, von welchen Standpunkten aus an den Themenhorizont der Ausstellung herangegangen werden kann. Aus anfänglicher Unkenntnis und daraus entstandenem eigenen Interesse über die Sinti und Roma als „unsichtbare“ Opfergruppe des Nationalsozialismus fand sich ihre Arbeitsgruppe im Seminar bei Herrn Körber zusammen und widmete sich der Frage: „Warum wissen bzw. wussten wir eigentlich nichts über den Genozid an den Roma und Sinti?“. In der Bearbeitung und Vertiefung des Themas konnten sie Parallelen zum Holocaust ziehen und die Ursachen und Folgen der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung besser nachvollziehen. Mit ihren Kenntnissen konzipierten die Studentinnen Raininatou Koura und Sümerya Uzun im darauffolgenden Semester dann gemeinsam ein Unterrichtskonzept. „Wichtig in der Weiterarbeit war für uns keine Relativierung oder Hierarchisierung vorzunehmen, in dem wir die Opfergruppe der Roma und Sinti hervorheben, vielmehr ging es uns darum, sie stellvertretend als exemplarisches Beispiel zu nutzen, um auch an andere Opfergruppen des Nationalsozialismus zu erinnern und sie sichtbar zu machen.“, führt Raininatou Koura aus. „In unserem Unterrichtsentwurf geht es schwerpunktmäßig darum, Biografien zu erstellen, die sich mit Personen der Opfergruppe Roma und Sinti beschäftigen – alles in Anlehnung an die Biografien, die in der Ausstellung ,Verfolgen und Aufklären‘ gezeigt werden. Die Schüler:innen sollen reflektieren, kritisch hinterfragen und die geringe Aufarbeitung und Bekanntheit des Porajmos erkennen.“
Redner:innen-Wechsel: In der heutigen Pädagogik und natürlich auch hier in der Konzeption der Unterrichtseinheiten ist das Thema der Inklusion und die Frage, wie Ausstellungen wie diese für alle Schüler:innen zugänglich und barrierefrei gemacht werden können, mit im Fokus. Dazu stand dem Seminar die Sonderpädagogin Dr. Marie-Luise Schütt der Servicestelle Inklusive Schule ohne Barrieren zur Seite. Um die Ausstellung im Lichthof barrierefreier und zugänglicher zu gestalten, wurden unter anderem Museumsstühle angeschafft, genaue Anfahrtsbeschreibungen auf dem bald erscheinenden Blog hinterlegt, Informationen in Gebärdensprache veröffentlicht und die Ausstellung auch online abrufbar und akustisch erlebbar gemacht.
Nach einer weiteren aufschlussreichen Kurzvorstellung eines Gruppenprojekts startet der Gallery Walk und ich wandele zwischen den Plakatwänden hin und her, an denen die angehenden Lehrer:innen nun Rede und Antwort stehen.
Ich treffe Raininatou Koura und Sümerya Uzun wieder, die ihre Unterrichtseinheit bald in einer zehnten Klasse ausprobieren möchten. „Wir sind gespannt, wie die Schüler:innen darauf reagieren, dass wir nicht den Holocaust in den Fokus gesetzt haben, sondern von einer Gruppe sprechen, die auch wir als Student:innen zunächst noch gar nicht kannten und ob da vielleicht schon Vorwissen da ist.“, sagt Raininatou Koura und Sümerya Uzun ergänzt: „Für die Klasse ist das dann der Einstieg in das Thema Nationalsozialismus, ein etwas anderer Einstieg über die Roma und Sinti und dann über die Ausstellung, ein kleines Experiment, mal gucken, wie es dann funktioniert.“
Florian Klauser hat seinen Unterrichtsversuch bereits Ende des letzten Schuljahres in einer neunten Klasse halten können. „Ich war mit meinem Konzept recht nah an der Ausstellung dran. Mit den Schüler:innen zusammen habe ich die Frage entwickelt, wie Jüdinnen und Juden mit dem Erlebten zur Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkrieges umgegangen sind. Das habe ich ganz konkret mit Texten und Biografien aus der Ausstellung thematisiert. Für eine Schülerin mit sonderpädagogischem Förderbedarf habe ich die Texte im Sinne der Barrierefreiheit auch in einfacher Sprache bereitgestellt.“ Gemeinsam mit den Schüler:innen wurde erarbeitet, was das Motiv hinter dem Forschen, dem Erinnern, und dem Verfolgen war und in einem weiteren Schritt versucht, eine Metaposition einzunehmen und zu überlegen, was die Ausstellung für Menschen jüdischen Glaubens und nichtjüdischen Glaubens heute bedeuten kann. „Das Ganze hat prima funktioniert, die Schüler:innen, auch jene mit Lernschwierigkeiten, waren konzentriert und neugierig mit dabei“, resümiert er.
Es wird ruhiger im Raum und alle finden sich wieder auf ihre Plätze ein für eine kleine Diskussion und den Abschluss der Veranstaltung für diesen Abend. Dann ist es vorbei. In mir arbeitet es und ich fühle mich inspiriert. So viele Ideen und Kreativität für innovative Unterrichtsgestaltung, dabei Sensibilität und Achtsamkeit für Opfergruppen und die düsteren Themen der Geschichte – junge Lehrer:innen, die sich viele Gedanken machen, auch um die Zugänglichkeit der Themen für alle Schüler:innen. Ich merke, es gibt viele Ansatzpunkte und Anfänge, um an das Thema Nationalsozialismus heranzugehen. Was für ein toller Weg für Geschichtsunterricht, über eine Ausstellung zu gehen, die so nah an den Betroffenen ist - mit Unterrichtskonzepten, die die Geschichte dann genauso nah und greifbar transportieren. Waren da nicht noch die Student:innen mit diesem bunten Materialienkoffer? Mit den beiden muss ich noch schnell sprechen, bevor sie gehen!
Weiterführende Informationen
Die erfolgreiche Wander-Ausstellung „Verfolgen und Aufklären – die erste Generation der Holocaustforschung“ gastiert derzeit im Lichthof der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Seit dem 24. August bis zum 10. Oktober 2022 können sich Besucher:innen von 10 bis 18 Uhr die Ausstellung eintrittsfrei ansehen und Einblick in Leben und Arbeit von zwanzig Pionier:innen der Holocaustforschung bekommen, die noch während des Krieges die verbrecherischen Taten dokumentierten und Spuren sicherten. Es gibt ein Begleitprogramm zur Ausstellung.