Prof. Dr. Ingrid Lohmann erhält Ernst-Christian-Trapp-Preis der DGfEInterview zum Rückblick
15. März 2022
Foto: DGfE/Derdula
Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft hat den Ernst-Christian-Trapp-Preis an Prof. Dr. Ingrid Lohmann (Professur für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung/Historische Bildungsforschung) verliehen. Mit dem alle zwei Jahre vergebenen Preis der wichtigsten Fachgesellschaft der Erziehungswissenschaft werden Mitglieder für die innovativen und unkonventionellen wissenschaftlichen Leistungen geehrt, die sie mit ihrem Lebenswerk für die Erziehungswissenschaft erbracht haben.
Im Interview ordnet Prof. Dr. Ingrid Lohmann ihre langjährigen Forschungen vor allem zu jüdischer Bildungsgeschichte sowie deutsch-türkischen Bildungsbeziehungen im Rückblick ein.
Interview mit Prof. Dr. Ingrid Lohmann
Liebe Frau Lohmann, die DGfE würdigt mit dem Preis innovative und unkonventionelle wissenschaftliche Leistungen – welche ist dabei aus Ihrer eigenen Sicht in Ihrem Werk besonders wichtig gewesen?
Das sind zuallererst die Forschungen über die jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland in der späten Aufklärung, vor allem die Erarbeitung der Geschichte der jüdischen Freischule in Berlin. Das war eine Knabenschule neuen Typs, die darauf zielte, dass die jüdische Jugend am Übergang in die moderne Gesellschaft teilhaben konnte, dass sie nicht davon abgehängt würde. Diese Schule, die im späten 18. Jahrhundert errichtet wurde, sah eine Kombination von weltlichen Fächern und reformierter religiöser Unterweisung vor; beispielsweise wurde im Unterricht Moses Mendelssohns Bibelübersetzung zugrunde gelegt, um zugleich Hebräisch und Deutsch zu lernen. In den jüdischen Gemeinden sprach man damals Jüdischdeutsch, was aus Sicht der Maskilim, der jüdischen Aufklärer, höchst abträglich war für soziale Integration und die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zu dieser Schule und auch zu ihrer konzeptionellen Grundlegung, die von Hartwig Wessely stammte (und von orthodoxer Seite heftig bekämpft wurde), sind mehrere voluminöse Quellenbände entstanden.
Wichtig ist mir auch die Forschung zum Wandel des Diskurses über Türken und die Türkei in deutscher Pädagogik und Lehrerschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Es ist bisher kaum bekannt, dass lange vor dem Anwerbeabkommen von 1961 intensive deutsch-türkische Beziehungen bestanden, die für die Weltmachtpläne des Deutschen Kaiserreichs eine zentrale Rolle spielten. Uns interessiert deren Rückwirkung auf Pädagogik und Lehrerschaft. Dieses bildungshistorische Kapitel des deutschen Imperialismus und Kolonialismus heben wir ans Tageslicht, weil es für beide Seiten – Mehrheit und Minderheit in Deutschland heute – aufschlussreich für die Verständigung über die gemeinsame Geschichte ist.
Was bedeutet die Preisverleihung der DGfE, in der Sie sich unter anderem 2006-2012 im Vorstand engagiert haben, für Sie?
Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, diesen Preis zu erhalten. Ich erfuhr davon schon vor einiger Zeit, aber so recht an den Gedanken gewöhnt habe ich mich immer noch nicht. Es ist so eine erfreuliche Auszeichnung und Würdigung und rückt einen in die vorderen Reihen des Faches. Die Ehrung mit diesem Preis macht mich stolz und ist ein Ansporn, auch für meine weitere Arbeit.
Sie sind Bildungshistorikerin, das heißt Sie können auf sehr viele Jahrzehnte mit potenziellen Forschungsthemen zurückgreifen. Welche Themen ziehen sich durch Ihre gesamte wissenschaftliche Laufbahn, gibt es eine Art roten Faden?
Ja, einen roten Faden gibt es, und der besteht darin, dass ich von den Rändern her an Fragen arbeite, deren Verdrängung für die politische Kultur und den sozialen Zusammenhalt im Land aus meiner Sicht schädlich ist. Er besteht auch darin, zur Selbstermächtigung jener Gruppen beizutragen, die schon lange im Lande leben, von der Mehrheitsgesellschaft aber immer wieder an den Rand gedrängt werden.
Die Ideengeschichte von Erziehung und Bildung ist immer auch vom gegenwärtigen Standpunkt geprägt. Gibt es Themen, auf die Sie jetzt anders blicken als zu Beginn Ihrer Laufbahn als Wissenschaftlerin?
Das ist bei den beiden genannten Themen - jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland und in den letzten Jahren die frühen deutsch-türkischen Bildungsbeziehungen - im Großen und Ganzen nicht der Fall. Mit beiden Themen habe ich mich ja auch über viele Jahre auseinandergesetzt. Dabei lernt man natürlich eine Menge (und vergisst vieles auch wieder).
Dass ich darauf jetzt anders blicke als anfangs, gilt vor allem für ein weiteres Thema, das mir sehr wichtig ist und an dem ich ebenfalls viele Jahre gearbeitet habe, nämlich die anscheinend unaufhaltsame Privatisierung und Kommerzialisierung des Wissenschafts- und Bildungsbereichs. Als Tochter der Moderne kritisiere ich sie in Grund und Boden (so weit die Kräfte halt reichen). Als Tochter der Postmoderne frage ich nach den interessanten neuen ökonomischen Rationalitäten, die darin stecken.
Als Wissenschaftlerin denkt und arbeitet man ja nie allein. Wer hat Sie auf Ihrem Weg besonders geprägt?
Danke für diese Frage! Ich kann nur unterstreichen, dass ich so gut wie alle meine Forschungen nie allein unternommen habe, sondern immer in Kollektiven. Es waren Arbeitsgruppen mit sehr fruchtbarer und konstruktiver Zusammenarbeit, bis heute, und die regelmäßigen und häufigen Diskussionen, das Hinarbeiten auf geteilte Ziele, haben mich sehr viel weitergebracht als ein einsames Vor-sich-hin-arbeiten am Schreibtisch.
Sie haben zur Ideen- und Sozialgeschichte von Erziehung und Bildung geforscht. Was denken Sie, unter welchen zentralen Stichworten und Debatten die heutige Zeit irgendwann einmal in der historischen Bildungsforschung diskutiert werden wird?
Zu den zentralen Stichworten wird Finanzialisierung gehören, also die Tendenz zur Umwandlung praktisch aller gesellschaftlichen Prozesse in Finanzprodukte und Finanzdienstleistungen, weltweit. Das könnte gerade auch in der historischen Bildungsforschung anregen, die Formungen der Individuen und die Gestaltungen ihrer Handlungsräume näher zu beschreiben und zu analysieren, die solch grundlegende Wandlungen der Beziehungen zwischen Kultur und Ökonomie mit sich bringen.