Vielfalt thematisierenEin Interview mit Prof. Telse Iwers und Prof. Ulrike Graf über Vielfalt, gemeinsame Bezugspunkte, Partizipation und Irritation
17. September 2019, von Bente Gießelmann
Foto: UHH/Wett
Am 16. und 17. September 2019 findet an der Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg die Tagung "Vielfalt thematisieren" statt. Was Vielfalt eigentlich genau bedeutet, welche Herausforderungen zum Umgang mit Vielfalt es gibt und was professionell Handelnde wissen und können sollten, darüber sprechen die beiden Organisatorinnen Prof. Telse Iwers und Prof. Ulrike Graf - ein Interview während der Tagung und mit frischen Eindrücken.
Das Gespräch mit Prof. Dr. Telse Iwers (Universität Hamburg) und Prof. Dr. Ulrike Graf (PH Heidelberg) führte Bente Gießelmann.
Wovon sprechen wir beim Thema Vielfalt in (pädagogischen) Institutionen – Ausnahme oder Regel?
Iwers: Vielfalt kann über die verschiedensten Diversitätslinien oder "Kategorien" (wie zum Beispiel "Geschlecht", "Behinderung" oder "Alter") benannt werden, insofern gehen wir vom Regelfall aus und nicht von der Ausnahme. Vielfalt gibt es immer da, wo Personen zusammenkommen.
Graf: Bedeutsam ist dabei die Frage, ob und wie Vielfalt wahrgenommen wird, denn das bestimmt natürlich den Umgang mit Vielfalt. Damit im Zusammenhang stehen auch die Fragen: Gibt es Kategorisierungen, gibt es Begrenzungen?
Was ist gemeint mit Vielfalt, was genau schaut sich die Forschung an?
Iwers: Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, weil es von der theoretischen Perspektive abhängt, was unter Vielfalt verstanden wird und welche Aspekte in Forschungsprojekten untersucht werden. Wir haben zum Beispiel gestern aus der Perspektive der Schulpädagogik gehört, dass es um das Spannungsverhältnis von Individualität, Universalität und Differenzierung geht. Und wir haben heute aus der sonderpädagogisch-soziologischen Perspektive gehört, dass es um die Frage geht, inwieweit Partizipation Inklusion braucht.
Graf: Pädagogische Praxis braucht Kategorienkenntnis, um mit Vielfalt umzugehen. Natürlich ist die Aufgabe von Forschung auch, die Konstruktion und die Mechanismen der Produktion von Kategorien zu befragen. Das ist in vielen Forschungsprojekten und in der Praxis relevant. Wissen Lehrkräfte, was sie tun, wenn sie sagen „Sag doch mal, wie ist das in eurer türkischen Community …?“. Es geht also um Praktiken des Umgangs mit Kategorien und auch um die Frage: Was sind die Mechanismen der Konstruktion von Vielfalt?
Gibt es typische Beispiele zum Umgang mit Vielfalt in Institutionen?
Iwers: Wir haben vorhin einen Vortrag aus der Erwachsenenbildung gehört, in dem es darum ging, wie man die Personen, die VHS-Kurse anbieten, dazu befähigen kann, inklusionsorientierte Angebote zu gestalten. Diese Frage ist noch schwerer zu beantworten als im schulischen Kontext über die Förderung von Inklusionsorientierung oder interkulturelle Sensibilisierung nachzudenken. Die meist freiberuflich Lehrenden der VHS haben die institutionell geprägten (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten nicht in gleichem Maße zur Verfügung.
Graf: Der Umgang mit Vielfalt hat immer einen organisationalen Rahmen. Aus Inklusionsperspektive ist es wichtig, immer alle einzubeziehen mit ihrer Wahrnehmung und ihren Erfahrungen und Deutungen. Wir hatten vorhin das Beispiel einer Stadtteilschule, in der geflüchtete Kinder sofort in die Regelklassen kommen und nur wenige Stunden außerhalb dieser Klasse Sprachunterricht haben. Auch wenn diese Kinder in der Regelklasse in der Überzahl sind, nehmen sie dies als sehr exkludierend wahr. Wenn man eine Institution inklusiv gestalten will, ist es wichtig, dass man die Beteiligten immer auch nach ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen von Inklusion und Exklusion befragt.
Die Konvention der Menschenrechte gibt uns dabei einen inklusionstheoretischen Rahmen vor, das bedeutet, dass das Ziel des Umgangs mit Vielfalt die Partizipation oder Teilhabe aller ist.
Was bedeutet der Umgang mit Vielfalt in Ihren eigenen Arbeitskontexten?
Graf: Ich habe einen neuen Impuls aus der Grundschulforschung bekommen. Wenn wir Angebote zur Beschäftigung mit dem Thema Inklusion machen, ist das eine inklusionsorientierte Gestaltung, während eine inklusive Gestaltung wäre, Inklusion zu leben, sprich Partizipation zu ermöglichen. Wie soll jemand Partizipation vermitteln, wenn sie oder er sich selbst nicht als ausreichend handlungsfähig in ihrer/seiner Institution erlebt? Und da würde ich sagen, eine inklusive Einrichtung sind wir als Hochschule noch nicht – rechtlich ja, aber noch nicht durchgehend in der Praxis von Lehren und Lernen.
Iwers: Diese Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeit ist auch etwas, was die Studierenden zu Recht einfordern: Wie kann ich in eine Vorlesung gehen und frontal etwas über Partizipation hören? Daran schließt die hochschuldidaktische Frage an, wie ich Erfahrungsräume herstellen kann für zukünftige Lehrerinnen und Lehrer. Dies ist z. B. ein Anliegen meiner Austauschaktivitäten mit Ghana, in denen Studierende beider Nationen sich durch gegenseitige Besuche und Hospitationen auf Ungewissheitssituationen einlassen, die über unsere hiesigen Angebote hinausgehen, um dann über ihre Ungewissheits-Erfahrungen und Irritationen ins Gespräch zu kommen.
Was lernen die Studierenden und was sollen sie lernen zum Umgang mit Vielfalt in pädagogischen Institutionen?
Iwers: Für mich sind das zwei Dinge: Zum einen zu verstehen, dass Unterschiedlichkeit sozial konstruiert wird und zum anderen, dass Verschiedenheit nicht immer zu Ausgrenzung führen muss. Das Problem ist vielmehr, dass Zugehörigkeit über Verschiedenheit definiert wird. Dafür muss ein Bewusstsein entwickelt werden, und das passiert unter anderem durch Selbstreflexion.
Graf: Und die Studierenden müssen die Kontexte und deren „Sprachen“ unterscheiden lernen. Denn für einen Antrag brauche ich die Kategorien, sonst bekomme ich keine Ressourcen für beispielsweise ein Kind mit einer Behinderung. Und im pädagogischen Umgang brauche ich die andere „Sprache“, in der es um die Ermöglichung der Teilhabe geht. Dabei müssen Menschen möglichst autonom, also selbständig sein, ohne dabei alleine gelassen zu werden.
Wo liegen die Herausforderungen für Pädagog*innen denn konkret?
Iwers: Die Herausforderungen sind sehr vielschichtig, wie auch die verschiedenen theoretischen Perspektiven zeigen, die auf unserer Tagung eingenommen wurden. Wir haben von soziologischer, philosophischer, pädagogischer und psychologischer Seite diskutiert und dementsprechend immer wieder neue Herausforderungen erkannt. Konkret lässt sich vieles ableiten, das sich im Kern um Bildung und Reflexion dreht.
Graf: Das eine ist die Reflexivität als Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern, darin bestätigt uns die Professionsforschung und da müssen wir dranbleiben. Und das zweite ist, dass wir viel zu wenig Wissen haben über Kontexte in der pädagogischen Praxis, in denen inklusive Kompetenz entwickelt werden kann – also in inklusiven Kontexten selbst zu lernen und Unterricht mit einer möglichst großen Bandbreite von Vielfalt zu ermöglichen. Finden Sie beispielsweise mal Praktikumsplätze für Studierende in inklusiven Kontexten, in denen man auch praktisch lernen kann, wie es geht. Diese Kontexte gibt es strukturell noch viel zu wenig.
Und was sind die Anforderungen an diejenigen, die diese Lern- und Professionalisierungsprozesse anstoßen und begleiten sollen?
Graf: Auch eine Lehrkraft, die schon im Dienst ist, hat die Aufgabe, Konstruktionen von Vielfalt und Inklusion oder Exklusion zu bemerken und zu thematisieren, sodass diese Konstruktionen auch den Schülerinnen und Schülern bewusst werden. Und wir hier an der Universität haben die Aufgabe, die Inklusionskonzepte der Studierenden zu befragen und auch zu befremden, auch im Hinblick darauf, was uns vorgegeben ist als Bildungsauftrag. Dazu braucht es die Bereitschaft zur Selbstreflexion, auch von denen, die diese Prozesse begleiten.
Iwers: Es geht darum, immer wieder Gelegenheiten zur Irritation zu schaffen, um sich selbst in Frage zu stellen und die eigenen Kategorisierungen und Einstellungen zu hinterfragen. Ebenso geht es darum, den Umgang mit Ungewissheit zu thematisieren, der Kernstück pädagogischer Interaktionen ist und sich insbesondere im Hinblick auf Vielfalt präsentiert.
Graf: Die Kategorien an sich sind ja nicht das Problematische, sondern deren Bewertung. Und bei aller Vielfalt, die ja den Fokus eher auf Individualisierung legt, müssen wir gesellschaftlich gleichzeitig den Fokus darauf rücken, was uns verbindet und was den gemeinsamen Bezugspunkt darstellt. Also: Was ist das Gemeinsame, auf das man sich verständigen kann, um nicht nur in Differenzen zu denken?
Iwers: Eigentlich ist es ganz einfach zu sagen, das Menschsein verbindet uns.
Graf: Aber da fängt auch die Schwierigkeit an.