"Wer sich sprachlich nicht repräsentiert fühlt, verliert schnell das Bedürfnis, sich in die Gesellschaft einzubringen."
20. Juni 2022
Foto: UHH/privat
Im Rahmen unserer losen Interviewreihe mit Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftlern hat das Referat Internationalisierung mit Prof. Ingrid Piller von der Macquarie University gesprochen.
Ingrid Piller ist Professorin für Angewandte Linguistik an der Macquarie University in Sydney. Die Soziolinguistin mit Forschungserfahrung in interkultureller Kommunikation, Sprachenlernen, Mehrsprachigkeit und zweisprachiger Erziehung ist die Projektleiterin für die Partnerhochschule Macquarie University des fakultären Netzwerks Next Generation Literacies. Letzteres ist angedockt an das Forschungszentrum LiDS (Literacy in Diversity Settings). Die Anneliese-Meier-Preisträgerin von 2018 war im Mai und Juni zu Besuch in Hamburg, wo wir sie kurz vor ihrer Abreise für ein Interview getroffen haben. Da Frau Piller gebürtige Deutsche ist, haben wir uns auf Deutsch unterhalten.
Referat Internationalisierung: Liebe Frau Piller, schön, dass Sie nun einmal wieder nach Hamburg kommen konnten nach einer langen, coronapandemiebedingten Pause.
Ingrid Piller: Ja ich freue mich auch sehr, dass es geklappt hat – wenn ich auch einen deutlich längeren Forschungsaufenthalt geplant hatte, so bin ich doch sehr froh, das LiDS-Team und meine Hamburger Netzwerk-Kolleginnen nun endlich einmal wieder in persona treffen zu können. Der persönliche Austausch ist doch in manchen Aspekten einfach dem digitalen überlegen. Wenn ich auch sagen muss, dass die durch die Pandemie erzwungenen Maßnahmen der digitalen Kommunikation und Zusammenarbeit für unser Netzwerk nicht nur schlecht waren, sondern auch neue Möglichkeiten eröffnet haben, über die wir vorher nie so nachgedacht haben.
Können Sie das konkretisieren?
Die Organisation eines internationalen Netzwerks wie Next Generation Literacies ist offenkundig sehr aufwendig und die Kommunikation unter den verschiedenen Mitgliedern des Projekts über Raum- und Zeitgrenzen hinweg stellt eine Herausforderung dar. Hier haben wir vor Corona tatsächlich hauptsächlich in der Logik vieler interkontinentaler Besuche gedacht. Die Möglichkeiten, die sich uns durch die Nutzung von Video-Kommunikations-Software seit Anfang 2020 eröffneten, haben dieses Paradigma natürlich durcheinander gerüttelt – einfach dadurch, dass sich unsere Gewohnheiten und unser Anspruch bzw. unsere Idee von Zusammenarbeit geändert haben. Jeden Monat ein Meeting auf Netzwerkführungsebene durchzuführen, pusht das Projekt enorm und hat uns sehr vorangebracht. Diese Lehre sollten wir unbedingt in die Post-Corona-Zeit mitnehmen.
Beschreiben Sie uns doch bitte den Forschungsschwerpunkt des Netzwerks, in dem Sie gemeinsam mit u.a. Ingrid Gogolin, Sílvia Melo-Pfeifer und Zheng Yongyan von der Fudan University in Shanghai arbeiten?
Gerne. Die Kooperation der Universität Hamburg mit der Macquarie University und der Fudan University besteht schon seit vielen Jahren; im Rahmen der von der Universität Hamburg geförderten Initiative Next Generation Partnerships wurde dann von der Fakultät für Erziehungswissenschaft in Kooperation mit der Macquarie und der Fudan University das Projekt Next Generation Literacies eingereicht und als förderwürdig angenommen. Im Netzwerk konzentrieren wir uns auf die Forschung zu linguistischer Diversität vor allem in monolingualen Kontexten bzw. Traditionen und welcher Zusammenhang hier mit sozialer Teilhabe und Zugangsmöglichkeiten in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Arbeit und Recht besteht. Deutschland, Australien und China eignen sich hier besonders gut für den empirischen komparativen Ansatz, da alle drei Länder sich offiziell in erster Linie als einsprachig verstehen, aber in Wirklichkeit durch Einwanderung, indigene Minderheiten und Globalisierung sprachlich sehr divers sind.
Unserem Forschungsschwerpunkt sprachliche Diversität ist seit letztem Jahr übrigens auch ein Programmzweig innerhalb der Hamburg International Summer School gewidmet. Heuer findet die virtuelle Summer School Language Diversity zwischen dem 11.7. und dem 5.8. statt.
Hier möchte ich übrigens noch einen zusätzlichen positiven Effekt der Coronapandemie nicht unerwähnt lassen: Aufgrund der Tatsache, dass wir viele für Reisen bestimmte Fördergelder nicht verausgaben konnten, ist es möglich, für Teilnehmende aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Teilnahmegebühren zu übernehmen. Hier sind aktuell auch noch Gelder frei und Interessierte können sich regulär bewerben!
Das ist wirklich eine tolle Sache und unterstreicht Ihre Aussage, dass auch Positives aus der Coronapandemie erwachsen ist.
Verraten Sie uns noch, womit Sie sich momentan konkret beschäftigen in Ihrer Forschung auf das Netzwerk bezogen?
Grundsätzlich geht meine Forschung der Frage nach, welche Konsequenzen Sprache für gesellschaftliche Teilhabe hat. Zum Beispiel haben wir in einem kürzlich veröffentlichten Projekt untersucht, wie Schulen in Australien mit sprachlich diversen Elternschaften umgehen. Konkret haben meine Kolleginnen Ana Sofia Bruzon, Hanna Torsh und ich Daten zu der Frage gesammelt, wie die 30 untersuchten Schulen, die alle Einzugsgebiete mit mehr als 50% nicht-englischsprechenden Haushalten – teilweise bis zu 98%! – haben, die Eltern ansprechen, die ihre Kinder für das kommende Schuljahr an der Schule anmelden müssen. Die Ergebnisse waren erschreckend: Es herrscht überwiegend eine monolinguale einsprachige Logik vor – und das obwohl Australien das Recht auf die Kommunikation in der eigenen Sprache festschreibt! D.h. in Behörden etc. gibt es den sogenannten Telephone Interpreting Service, den nicht-englischsprechende Personen in Anspruch nehmen können – aber die Ansprache der Schule findet nur auf Englisch statt. Eine Zusammenfassung der Studie ist unter „Monolingual websites as barriers to parent engagement“ verfügbar.
Das klingt erstens nach wichtiger Feldforschung aber auch nach ganz entscheidenden Erkenntnissen, die hoffentlich als Anreiz genommen werden, in diesem Bereich Änderungen vorzunehmen.
Ja, es ist entscheidend für die Demokratie, dass die Personen, die auf einem Nationalstaatsterritorium leben, miteinander kommunizieren können, denn das macht Demokratie ja letzten Endes aus: das miteinander Reden. Wer sich sprachlich abgehängt oder nicht repräsentiert fühlt, verliert auch schnell das Bedürfnis, sich in die Gesellschaft einzubringen.
Danke für diesen eindringlichen Appell, der die Wichtigkeit der Forschung zu diesem Thema nochmals verdeutlicht.
Zum Schluss noch unsere Standardfrage zu Hamburg: Was gefällt Ihnen an der Hafenstadt?
Grundsätzlich empfinde ich Hamburg als weltoffene Stadt – der Status als Hafenstadt mit dem „Tor zur Welt“ bedingt dies sicherlich auch seit Jahrhunderten. Auf ganz persönlicher Ebene, aber dennoch verbunden mit meinem Forschungsinteresse, bin ich immer wieder begeistert von den Sprüchen auf den öffentlichen Mülleimern. Ich fotografiere und sammle diese Sprüche tatsächlich, das ist für mich so ein kreatives Beispiel von Linguistic Landscapes (lacht).
Wir danken Ihnen für Ihre Zeit und das Gespräch.
Mehr Informationen zur UHH-Initiative Next Generation Partnerships, innerhalb derer das Netzwerk Next Generation Literacies im Zeitraum 2021-2023 gefördert wird.
Weiterleitung zum preisgekrönten Blog Language on the move von Ingrid Piller, der sich mit Mehrsprachigkeit im Kontext von Globalisierung und Migration beschäftigt.
Hier geht es außerdem zu einem kürzlich erschienen Interview der Macquarie University mit Ingrid Piller.